Die Stunde der Schwestern
Zweieinhalb Jahre harter Arbeit lagen hinter ihr, Jahre des ständigen Fastens und Arbeitens bis zur totalen Erschöpfung. Immer mehr griff Georges in ihr Leben ein, und seine Frau zeigte ihr offen ihre Abneigung. Einmal hatte Adrienne sogar behauptet, Fleur habe Schuhe am Set gestohlen. Doch Georges verteidigte seinen Star, und plötzlich fanden sich die grauen Wildlederpumps in irgendeiner Ecke wieder.
Fleur erkannte Adriennes großen Hass nicht, doch sie war verwundert über ihre Eifersucht, denn letztendlich hatte sie keinen Grund dazu. Fleur schlief nicht mit Georges, er hatte kein einziges Mal den Versuch gemacht, sie ins Bett zu bekommen.
»Ich habe keine Lust mehr«, klagte Fleur am Set. Sie war müde, und sie wollte nach Hause, sich im Bett verkriechen und einen heißen Tee trinken. Sie hatte Hunger, doch sie durfte ja nichts essen.
»Eine Stunde noch. Hier,
chérie
, nimm einen Schluck Champagner!« Georges verständigte sich durch ein Zeichen mit seiner Frau, die Fleur ein volles Glas brachte. Eigentlich wollte Fleur nicht trinken, sie war müde, so furchtbar müde, und sie fror wieder so entsetzlich. Doch Georges überredete sie zu trinken. Ihr wurde schwarz vor Augen, sie spürte, wie ihr die Beine versagten und das Glas aus ihrer zittrigen Hand fiel, sie besaß keine Kraft mehr, es zu halten.
Ihre Gedanken verwirrten sich, sie schloss die Augen und ließ sich fallen. Es war ein angenehmes Gefühl, ein langsames Schweben, durchsetzt mit Bildern. Sie sah sich, wie sie im Jahr zuvor das Brautkleid bei Jeanne Lanvin tragen durfte und damit über den Laufsteg schwebte, sie sah, wie die Leute klatschten, doch sie hörte keinen Ton. Eingehüllt in Stille, fiel sie und fiel, und während sie zu Boden glitt, wusste sie, dass sie nicht einschlafen durfte, und wünschte sich doch nichts so sehr, wie loszulassen. Sie verlor jedes Gespür für Zeit, die Vergangenheit löste sich auf, der Druck, der auf ihr lastete, die Ängste, zu versagen, ausgetauscht zu werden, nicht mehr gut genug zu sein. Es war das Gefühl eines reinen Glücks, als sie weiter sank und sank …
Doch plötzlich war sie wieder da. Frierend lag sie auf dem Pelzmantel, in dem sie Georges hatte fotografieren wollen. Sie spürte, wie jemand eine Nadel aus ihrer Vene zog und einen Finger daraufdrückte. Doch sie rührte sich nicht und hielt die Augen geschlossen. Sie wollte nicht zurück in ihr Leben. Jedenfalls nicht so schnell. Sie hörte Georges’ Stimme, die sie erst nicht erkannte, so dünn klang sie und gepresst:
»Mein Gott, wir dachten, sie stirbt. Es tut mir leid, so furchtbar leid«, wiederholte er immer wieder, »aber in zwei Stunden müssen die Fotos im Kasten sein. Versteh mich bitte, Patrice! Die Aufnahmen müssen morgen früh in der Redaktion von
Vogue
sein, und Adrienne war der Meinung, sie könne eine stärkere Dosis vertragen.«
Eine männliche Stimme antwortete Georges, sie klang scharf und kalt: »Ach? Adrienne kann also beurteilen, wie hoch die Dosis sein darf, ja? Du pumpst das arme Mädchen mit Aufputschmitteln voll, und deine Frau meint, sie könne das verkraften? Du hast Glück gehabt, Georges, dass ich so schnell kommen konnte. Ihr Kreislauf war am Zusammenbrechen, ist dir das klar? Sie muss sofort in ein Krankenhaus.«
Fleur reagierte nicht und ließ die Augen geschlossen.
»Bitte nicht, Patrice!« Georges schien außer sich. »Adrienne und ich haben das Mittel illegal in Amerika gekauft und …«
Fleur hielt den Atem an. Das also war es. Wie hatte sie nur so gutgläubig sein können! Vor den Aufnahmen bot Adrienne ihr immer ein Glas Champagner an. Das war bereits zur Gewohnheit geworden, fast wie ein Ritual, bevor die Musik einsetzte und Georges die Kamera hob. »Nur zum Auflockern, Schätzchen«, hatte Adrienne jedes Mal gesagt und ihr das Glas gereicht. Schon nach wenigen Schlucken fühlte sich Fleur dann wunderbar, voller Energie und Kraft.
»Wenn sie gestorben wäre, hätte ich euch angezeigt, das sage ich euch.«
»
Mon dieu,
jetzt mach nicht so eine große Sache daraus! Sie ist ja nicht gestorben«, erklärte Adrienne. »Reg dich ab!«
Georges dagegen entschuldigte sich immer wieder, und Fleur erkannte an seiner Stimme, dass er zutiefst betroffen war. »Ich verspreche dir, ich werfe das Zeug weg. Ich hatte keine Ahnung, wie gefährlich es ist. Aber bitte, Patrice, lass sie nicht in ein Krankenhaus einliefern! Das gibt einen Skandal, der uns vernichtet. Wir werden uns um Fleur kümmern, nicht wahr,
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