Die Stunde der Schwestern
Gedanken hoch, und bevor sie den runden Karton in Empfang nahm, streifte sie noch schnell ihre gehäkelten Handschuhe über. Als sie die Confiserie verließ, hatte es aufgehört zu regnen, und so hängte sich Denise den Schirm über den Arm und balancierte die Tortenschachtel nach Hause.
Heute war Samstag, und wie jede Woche würde sie heute mit Etienne schlafen. Es gab keine Zärtlichkeit zwischen ihnen, und wenn Etienne zu ihr kam, schloss Denise die Augen, um ihre Tränen zu verbergen. Er tat ihr weh, und wenn er mit seinen Knien ihre Beine auseinanderdrückte, steigerte sich ihre Scham ins Unerträgliche.
Denise war jedes Mal erleichtert, wenn »es« vorüber war. Über das »es« hatte sie mit ihrer Mutter gesprochen, zögernd nur und in Andeutungen. Sie hatte nicht gewusst, wem sonst sie sich anvertrauen konnte. Joselle hatte sie auch sofort verstanden.
»Da müssen alle Frauen durch«, erklärte sie ihrer unglücklichen Tochter. »Halte die Luft an und denke an etwas Schönes!«
»Es … ist so demütigend, so …«, hatte Denise voller Scham gestammelt, doch Joselle hatte nur die Achseln gezuckt.
»Sei froh, dass er nur jeden Samstag zu dir kommt, dein Vater dagegen …«
Denise hielt sich die Ohren zu. Sie wollte nichts wissen über das Liebesleben ihrer Eltern, das nur zwölf Jahre gedauert hatte, bis sich ihr Vater »aus dem Staub machte«, wie Joselle es nannte. Er entzog sich der Verantwortung für die Familie, setzte sich in den Zug nach Marseille und kam nie mehr zurück. Irgendwann hatte Joselle dann erfahren, er sei mit einer Schlangentänzerin nach Mexiko durchgebrannt, und Jahre später erreichte sie die Nachricht, dass er dort in einem Etablissement mit schlechtem Ruf einem tödlichen Herzanfall erlegen war.
Denise ging die paar Stufen zur Apotheke hinunter. Im Schaufenster stand eine große Tafel, auf der die Pilze der Umgebung abgebildet und beschrieben waren. Die Pilzsorten, deren Verzehr tödliche Folgen haben konnte, waren mit einem schwarzen Kreuz gekennzeichnet. Um diese Jahreszeit schossen die Pilze in den nahe gelegenen Wäldern förmlich aus der Erde, und es gab kaum jemanden in Saint-Emile, der nicht Pilze sammelte. Anschließend brachten die Leute sie in die Apotheke, um sie von Etienne begutachten zu lassen. Man wollte ganz sichergehen und sich nicht mit einem guten Pilzragout vergiften.
»Ich habe dein Lieblingsbrot gekauft«, rief Denise in die stille Apotheke hinein, als sie die Tür öffnete. »Das dunkle, das du so gern zur Bouillabaisse isst.«
Doch Etienne war nicht da. Auf der Theke lag ein ausgebreitetes kariertes Handtuch mit Pilzen darauf. Daneben stand ein Korb, an dem Etienne einen großen Zettel befestigt hatte:
Mme Javier, acht Uhr.
Offenbar prüfte Etienne die Pilze hinten im Labor, und Madame Javier holte sie um acht Uhr ab.
Unschlüssig blieb Denise einen Moment stehen und wartete auf Etienne. Er schien die Türglocke nicht gehört zu haben. Es wurde bereits dunkel im Raum, und draußen rauschte wieder der Regen vom Himmel. Während Denise noch unschlüssig dastand, fiel ihr Blick auf einen Zeitungsausschnitt. Sie stellte den Karton ab, blickte sich verstohlen um und griff neugierig danach. Es war ein Foto von Fleur, sie lächelte einem Mann zu, der den Arm um ihre nackten Schultern gelegt hatte. An den Rand hatte Etienne das Datum gekritzelt, es war ein Ausschnitt aus der Pariser Tageszeitung, die Etienne abonniert hatte. Hier wurde die »Affäre des Sommers«, wie es in der Unterschrift hieß, noch einmal aufgewärmt. Verwundert legte Denise den Zeitungsausschnitt zurück auf den Tisch. Da entdeckte sie eine offene Schublade unter der Theke, die randvoll mit Zeitungsausschnitten war. Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass ihr Ehemann Fotos von Fleur ausschnitt und sammelte.
Denise beugte sich mit rasendem Herzschlag über die Schublade und griff wahllos nach einem der ausgeschnittenen Fotos.
Albert de Montherlant mit seiner jungen Geliebten.
Es war ein großes Bild, auf dem Fleur ein schulterfreies, besticktes Abendkleid trug.
Alberts Geliebte trägt Couture von Cristóbal Balenciaga. Nichts scheint ihm für dieses junge Mädchen aus der Provinz zu teuer zu sein.
Ich liebe meinen Mann, diese Frau hat sich in meine Ehe gedrängt.
Wieder war Fleur abgebildet, diesmal allein, wie sie eine Straße überquerte.
Etienne hatte also nie aufgehört, sich nach Denise’ Schwester zu verzehren. Nach der schönen Fleur, die ihn abgewiesen hatte und
Weitere Kostenlose Bücher