Die Stunde der Schwestern
jetzt in Paris ein aufregendes Leben führte. Wieder griff Denise in die Schublade und zog ein weiteres Foto heraus. Mit einer Mischung aus Bewunderung und Neid betrachtete sie ihre Schwester in einem bestickten weißen Abendkleid. Sie lächelte ihren Begleiter an, der sie zärtlich auf die Schulter küsste. Darüber hatte Etienne mit dickem Stift ein Wort geschrieben:
Hure!
»Was machst du da?«
Erschrocken fuhr Denise herum. Ihr Mann stand in der Tür und starrte zu ihr herüber.
»Nichts«, log sie hastig, »gar nichts, ich habe mir die Pilze angesehen und wollte dir sagen, dass ich für heute Abend eine Schokoladentorte gekauft habe.«
Ihr gelang ein freundliches, harmloses Lächeln, während sie das Foto rasch in die Schulbade zurückgleiten ließ und das Klopfen des eigenen Herzens im ganzen Körper spürte. Etiennes Züge entspannten sich kaum merklich, doch er ließ Denise nicht aus den Augen, als er sich ihr näherte. Schnell griff sie nach dem runden Karton mit der Schokoladentorte, doch als sie zu den vier Stufen ging, die zur Wohnung der Aubrys führten, packte Etienne sie plötzlich am Arm.
»Etienne, lass mich los! Gleich fällt mir die Schachtel aus der Hand. Außerdem tust du mir weh.«
»Es geht dich nichts an, Denise, hörst du?« Seine Stimme klang leise und heiser. Denise hörte eine gefährliche Drohung heraus, die sie erschaudern ließ. »Es geht dich nichts an«, wiederholte er, und sein Griff um ihren Arm wurde härter. So fest, dass sie einen Schrei ausstieß. »Du wirst mir nicht mehr nachspionieren. Sollte ich dich noch mal dabei erwischen …«
»Du hast recht«, fiel sie ihm hastig ins Wort. »Es geht mich nichts an. Nichts, was du machst, geht mich etwas an. Auch wenn ich wirklich nicht weiß, was du jetzt gemeint hast. Ich habe dir nicht nachspioniert.«
Es war eine schwache Lüge, und Etienne durchschaute sie. Doch er schwieg und ließ Denise’ Arm abrupt los. Wie gehetzt lief sie die vier Stufen zur Wohnung hoch und öffnete mit dem Ellbogen die Tür. Als sie sich umsah, stand Etienne mit dem Rücken zu der offenen Schublade und sah ihr nach.
Denise war zutiefst verstört. Etienne hatte ihr eine Seite von sich offenbart, die sie nicht kannte und die ihr Angst einjagte. Als sie in der Küche den Karton auf dem Tisch abstellte und ihren grünen Hut vom Kopf nahm, zitterten ihre Hände so stark, dass sich das Gummiband des Hutes in ihren Haaren verhedderte.
Sie war hinter Etiennes Geheimnis gekommen. Er verzehrte sich nach Fleur, und der Inhalt dieser Schublade bewies, wie abgöttisch er sie liebte, während er mit ihrer Schwester verheiratet war. Der Ausdruck seiner Augen, sein flackernder Blick, als er unter der Tür stand und zu ihr herübersah, verfolgten Denise noch tagelang. Etienne ängstigte sie, denn sie hatte in diesem kurzen Augenblick seine Besessenheit für Fleur erkannt. Er würde sein Geheimnis schützen und gegen sie verteidigen, egal, was für Folgen dies auch immer haben mochte.
*
Dezember 1957
Paris
An Weihnachten fuhr Fleur nicht nach Hause.
Sie schob wichtige Termine vor, die Wahrheit jedoch war, dass sie nicht zu ihrer Mutter fahren wollte. Joselle hatte ihr in vielen Briefen bittere Vorwürfe über die Affäre mit einem verheirateten Mann gemacht. Ganz Saint-Emile sei immer noch entsetzt, und sie als ihre Mutter habe schwer darunter zu leiden.
Fleur war müde. Sie hatte in den vergangenen zwei Monaten fast pausenlos gearbeitet, Modemagazine und Agenturen rissen sich um sie, seit im November die ersten Fotos von ihr erschienen waren. Eine deutsche Modezeitung mit dem Namen
Constanze
hatte sie kurzfristig für Aufnahmen gebucht. Georges hatte sie der Chefredakteurin empfohlen, und Fleur flog nach München, um vor dem Friedensengel in karierten Sommerkleidern mit enger Taille und weiten Röcken zu posieren. Diese Aufnahmen hatten ihr viel Spaß gemacht, und sie war auf ihre erste Gage sehr stolz. In den folgenden Wochen fotografierte sie Georges bereits für
Harper’s Bazaar
und die
Vogue.
Die beste Modelagentur von Paris, Dorian Reed, nahm sie unter Vertrag.
Obwohl es das erste Weihnachten war, das sie nicht zu Hause verbrachte, blieb sie in Paris. Sie hatte ein schlechtes Gewissen und ahnte nicht, wie sehr Joselle und Denise über ihre Abwesenheit erleichtert waren. Joselle, weil man in der Stadt immer noch über Fleurs Affäre mit einem verheirateten Mann tuschelte, und Denise, weil sie ein Treffen zwischen Etienne und Fleur vermeiden wollte.
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