Die Stunde der Schwestern
heimliche Geliebte, denn Ginette hatte recht, er war verheiratet. Das aber hatte Fleur bis jetzt erfolgreich verdrängt. Er liebte sie, hatte er gesagt, war da nicht die natürliche Folge, dass er sich scheiden ließ?
Nachdenklich erhob sich Fleur. War sie wirklich zu gutgläubig, wenn sie ihn so vorbehaltlos liebte? Nackt ging sie ins Badezimmer und stellte sich auf die Waage. Sie hatte in den vergangenen Wochen drei Kilo zugenommen. Sie war schlank, sehr schlank, aber sie besaß nicht mehr ihre extrem schmale Taille, und auch ihre Wangen waren runder geworden. Georges würde ausrasten, wenn er sie jetzt sehen könnte. Er liebte ihre hohen Wangenknochen, die ihrem Gesicht auf Fotos das Außergewöhnliche verliehen.
Vor sechs Wochen musste sie erst wieder an ein normales Essverhalten gewöhnt werden. Sie erbrach jedes Stück Fleisch, jedes Gramm Butter, fast jede Suppe, die Ginette nach den strengen Vorgaben von Patrice für sie kochte. Erst seit zwei Wochen aß sie wieder »normal«, wie Patrice es ausgedrückt hatte. Die ganze Zeit über hatte sie nicht an ihre Figur gedacht. Es machte Spaß, wieder einen
gâteau au chocolat
zu essen, den Patrice ihr mitbrachte, und all die Gerichte, die Ginette für sie zubereitete.
Langsam ging Fleur zurück und ließ sich aufs Bett fallen. Fing jetzt alles wieder von vorne an? Diäten, Pillen und Hunger, der zu qualvollen Magenschmerzen führte? Georges bedrängte sie mit Anrufen. Er ließ ihr ausrichten, sie müsse ihre Verträge einhalten, sonst sei er gezwungen, andere Models zu buchen.
Doch Fleur hatte nicht nur wieder Freude am Essen entwickelt, sondern sie empfand auch keine Lust mehr, zu arbeiten und Fotos unter extremen Bedingungen zu machen. Sie sagte die anstehenden Termine ab, da sie immer noch krank sei und für ein paar Monate eine Auszeit nehmen wolle.
Ihre Tage verbrachte sie mit Spaziergängen durch die Stadt, saß im Jardin du Luxembourg und leistete sich bei Angelina, dem berühmten s
alon du thé
unter den Arkaden der Rue de Rivoli, eine heiße Schokolade und Maronentörtchen. Sie schlenderte durch den Louvre und machte eine Stadtrundfahrt. Sie erlebte Paris als Touristin, und das bereitete ihr großen Spaß. Viele Tage aber verbrachte sie zu Hause und wartete auf Patrice. Dann lief sie in ihrer Wohnung herum, beobachtete die Tauben auf den Dächern, hörte ihrem Gurren zu und verlor sich in Träumen. Träumen, in denen sie als Frau von Patrice ein wundervolles Leben führte.
Fleurs Ersparnisse waren nicht hoch und schmolzen schnell zusammen, denn sie hatte eine große Leidenschaft: Haute-Couture-Kleider, die ein Vermögen kosteten. So sagte sie bei Lanvin zu, in der nächsten großen Schau zu laufen. Das Couture-Haus war begeistert, und Jeanne Lanvin versicherte ihr am Telefon, einen großen Teil ihrer Kollektion auf sie abzustimmen.
An einem Freitag sollte Fleur um zehn Uhr zur ersten wichtigen Anprobe dort sein. Sie hatte einige Tage lang gefastet und machte sich sorgfältig zurecht. Doch da hörte sie den Aufzug im dritten Stock halten und die schnellen Schritte von Patrice die letzten Stufen heraufkommen. Bevor er klopfen konnte, öffnete sie die Tür.
»Ich muss weg«, sagte sie bedauernd. »Ich habe gleich eine Anprobe.«
Patrice hörte ihr jedoch nicht zu und schob sie ins Zimmer zurück. »Pack bequeme Sachen ein, schnell! Wir fahren für ein paar Tage in die Normandie.«
Fleur zögerte, denn sie wusste, welche Folgen das haben würde, wenn sie den Termin bei Lanvin einfach platzen ließ. Trotzdem entschied sie sich für eine Woche mit Patrice in der Normandie.
*
Bei ihrer Ankunft fing es zu regnen an. »Das Haus gehört mir, ich habe es von meiner Mutter geerbt«, erzählte Patrice, während sie in einen Kiesweg einbogen. Vorsichtig lenkte er den Wagen zwischen Rosenbüschen hindurch, deren erste Blüten im Regen zitterten.
Das Haus war nicht groß, es bestand nur aus zwei Räumen und einer kleinen Küche, doch Fleur fand es romantisch mit seinen gebohnerten Holzböden, dem großen Kamin und den geblümten Vorhängen.
Es regnete fast die ganze Zeit, aber Fleur war glücklich. Sie und Patrice hatten Zeit füreinander, und bedingt durch das Wetter, verließen sie das einsam gelegene Haus kaum. Sie schliefen miteinander, sie redeten, und Fleur erzählte von ihrer Kindheit und ihrem bisherigen Leben.
Patrice fuhr zum Einkaufen nach Deauville und schärfte Fleur ein, während seiner Abwesenheit niemandem aufzumachen. Keiner durfte wissen,
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