Die Stunde der Schwestern
gehen bei ihm übrigens auch nur mit Wagner«, fügte sie anzüglich hinzu. Doch Fleur verstand die Anspielung nicht und hatte auch keine Zeit, darüber nachzudenken.
»Entspann dich, Fleur, zeig’s mir,
chérie!
So ist es schön, nicht so steif, den Kopf hoch, nicht
so
hoch,
mon dieu!
Verstehst du denn gar nichts? Öffne die Lippen, öffne die Lippen, habe ich gesagt.«
Georges wurde ungeduldig. Wie durch einen Schleier hindurch sah Fleur die vielen Leute, die um ihn herumstanden und jede Anweisung von ihm sofort befolgten. Anderes Licht, den Scheinwerfer weg, den Scheinwerfer an, nicht so hell, dunkler … Einen Stuhl, einen schwarzen, schlichten Rollkragenpullover, Ballerinas, schmale Hosen … Nicht so steif …
Fleur konzentrierte sich, sie lächelte, sie warf den Kopf in den Nacken, sie ließ sich Kleider anziehen, ausziehen, fast nackt stand sie vor den Leuten. Sie hatte kein Gefühl mehr, was richtig oder falsch war, sie spürte die Konzentration im Raum, und die Erregung von Georges übertrug sich auf sie. Die Scheinwerfer waren auf sie gerichtet, Wagners ekstatische Klänge von
Tristan und Isolde
brausten auf, und Fleur verlor jede Hemmung. Sie folgte den Anweisungen, sie lächelte, sie lachte in die Kamera, sie verbog ihren Körper, sie wirkte unschuldig, erotisch, sie ließ sich in jede Pose fallen, die Georges ihr vorgab. Mehr noch, sie fing an, mit der Kamera zu spielen, mit Georges zu kokettieren. Das hier war eine eigene Welt, und sie spürte, sie war Teil davon geworden.
Nach über zehn Stunden gab Georges seine Kamera an den Assistenten weiter und trocknete sich die Stirn.
»
Ça suffit,
das genügt.« Er kam auf Fleur zu und fuhr der Erschöpften durch die kurzen Haare. Dann wandte er sich an seine Mitarbeiter.
»A new star is born!«,
rief er, und die Leute klatschten Beifall. Als Fleur sich strahlend bedankte, fiel ihr Blick auf eine Frau, die an einem Tisch lehnte und sie aus schrägen Augen beobachtete. Fleur wusste noch nicht, dass dies Georges Bonnets Frau Adrienne war, die ihr von diesem Moment an mit Eifersucht und Hass begegnen würde.
Aber Fleur wusste auch nicht, dass Georges mit jedem Mädchen schlief, das er »gemacht« hatte.
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8
November 1957
Saint-Emile
E s war kalt geworden. Regen hatte am Morgen eingesetzt und rauschte in grauen Kaskaden vom Himmel. Denise stand in der Confiserie La Danseuse mit den vielen Ballettfotos an der Wand und wartete geduldig auf ihre Schokoladentorte. Sie vermied den Blick in den goldgerahmten Spiegel hinter der Theke. Sie wollte ihr blasses, unglückliches Gesicht nicht sehen. Sie wusste zudem, dass ihr der dunkelgrüne Hut nicht stand, er passte auch farblich nicht zu ihrem blauen Kostüm, doch sie hatte es sich angewöhnt, niemals ohne Hut aus dem Haus zu gehen – wie alle Damen der Gesellschaft in Saint-Emile. Und zu denen wollte sie gehören, denn das war ihr Ziel gewesen, als sie Etienne geheiratet hatte.
Während sie wartete, sah sie durch das Schaufenster hinaus in den tristen Samstagnachmittag. Der November fing an, und jetzt wäre ihr Kind zur Welt kommen. Sehnsucht und tiefer Schmerz ergriffen sie. Erst nach der Fehlgeburt hatte sie erkannt, wie leidenschaftlich sie sich dieses Kind gewünscht hatte.
Etienne verhielt sich ihr gegenüber distanziert, machte ihr aber nach der Fehlgeburt unmissverständlich klar, dass er bald wieder ein Kind haben wollte. Schließlich hatte der Arzt erklärt, Denise könne jederzeit wieder schwanger werden. Für sie war es nicht leicht, wieder zur Tagesordnung überzugehen. Sie weinte oft nachts heimlich in ihr Kissen, während Etienne auf seiner Seite des Bettes mit dem Rücken zu ihr laut schnarchte. Sie konnte den Verlust nicht so schnell verkraften, wie es Etienne offenbar tat.
Marguerite Aubry wohnte noch immer im Haus, obwohl Denise der Meinung war, bereits genug von ihr gelernt zu haben. Als sie ihren Mann darauf ansprach, erklärte er kurz angebunden: »Sie bleibt. Wenn es häusliche Probleme gibt, sprecht euch aus! Ich will damit nichts zu tun haben.«
Jede der beiden Frauen fürchtete, von Etienne vor die Tür gesetzt zu werden, und so einigten sie sich in feindseligem Stillschweigen auf ein weiteres Zusammenleben. Sie arrangierten sich, keine sprach schlecht über die andere. Marguerite kümmerte sich um das Kochen und den gesamten Haushalt, und Denise ging ihr dabei zur Hand.
»Madame Aubry, Ihre Torte. Ich lege das kleine Brot mit hinein.«
Denise schreckte aus ihren
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