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Die Stunde der Schwestern

Die Stunde der Schwestern

Titel: Die Stunde der Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Maybach
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Adrienne? Wir nehmen sie zu uns und werden alles Nötige für sie tun.«
    »Nein«, hörte Fleur sich sagen, »nein, ich will nicht.«
    Und da wurde ihr bewusst, dass sie zum ersten Mal während der Zusammenarbeit mit Georges diesen Satz formuliert hatte:
    Nein, ich will nicht.
    Es klang wie eine Befreiung, und als sie die vier Worte ausgesprochen hatte, lächelte sie und schlug die Augen auf. »Ich will nach Hause.«
    Neben ihr kniete der Mann, der ihr die Spritze gegeben hatte, und beugte sich jetzt über sie. Er lächelte sie an, als er sich vorstellte: »Dr. Chaubert, Patrice Chaubert.«
    »Wir nehmen Fleur zu uns.« Adriennes Stimme klang gehetzt, und Fleur ahnte, dass sie panische Angst vor den Konsequenzen ihres Handelns bekam.
    »Nein«, wiederholte Fleur, »ich will nicht. Ich will nach Hause.«
    »Natürlich, Fleur, dann machen wir es so«, beruhigte sie Doktor Chaubert.
    Und wieder lächelte Fleur und fühlte sich nach langer Zeit zum ersten Mal gut, fast glücklich. Sie hatte sich in diesem Moment ihre Freiheit zurückgeholt.
    *
    Juni bis Oktober 1960
Paris
    »Wieso kommt Dr. Chaubert immer noch, obwohl du längst gesund bist?«
    Ginette lehnte an der Tür und beobachtete Fleur, die ihre Fleischbrühe löffelte. Fleur schoss das Blut ins Gesicht, was Ginettes scharfem Blick nicht entging.
    Ginette war die Concierge im Haus und hatte Fleur in den vergangenen Wochen gepflegt und für sie gekocht, wie Dr. Chaubert sie angewiesen hatte.
    »Ich kann dich vor ihm nur warnen«, fuhr sie fort. »Dieser Typ ist sicher verheiratet.«
    »Woher willst du das wissen?« Fleur versuchte, ihre Verlegenheit zu verbergen.
    »Ich kenne die Männer. Er
ist
verheiratet, und, das sage ich dir gleich, er wird sich nicht scheiden lassen.«
    »Das geht dich nichts an, außerdem weißt du gar nichts«, entgegnete Fleur.
    Ginette lachte nur spöttisch auf.
    Jeder im Haus wusste, dass Ginette früher am Boulevard Saint-Denis auf den Strich gegangen war, doch seit sechs Jahren residierte die Vierzigjährige als Concierge in ihrer Loge, und niemand kam ungesehen an ihr vorbei. Das vierstöckige Gebäude in der Rue de Rennes mit seinen ausgetretenen Treppen und dem alten, oft defekten Fahrstuhl gehörte Monsieur Alphonse Perrin, der mit seiner Frau am Boulevard de Charonne in einer gepflegten Wohnung lebte. Er war ein ehemaliger Freier von Ginette, und ihm verdankte sie den sozialen Aufstieg in eine bürgerliche Existenz. Jeden Mittwochnachmittag blieben die geblümten Vorhänge am Fenster der Conciergerie geschlossen, denn Alphonse Perrin machte dann seinen wöchentlichen Hausbesuch. Doch die Mieter mochten die kleine, zierliche Frau mit den rotgefärbten Haaren, die für jede Gelegenheit einen lockeren Spruch bereithielt.
    »Sie kleidet sich mit einem gewissen Charme«, hatte Maxime Malraux einmal festgestellt, als er noch hier wohnte. Damals inspirierte ihn ihr nachlässiger, aber phantasievoller Stil zu einer Kollektion in edler »Schlampen-Couture«.
    Da Ginette gut zuhören konnte, fanden sich immer wieder Mieter bei ihr ein, um mit ihr über ihre Probleme zu sprechen. Ginette schien das Leben in allen seinen Facetten und Abgründen zu kennen. Fleur war ihr dankbar für die Fürsorge der vergangenen Wochen und hatte sich mit einem Kleid aus der Kollektion Yves Saint-Laurent revanchiert.
    »Wieso kommt er immer noch?«, insistierte Ginette jetzt.
    »Ich habe keinen Hunger mehr«, wich Fleur der Frage aus. »Und danke, die Suppe war sehr gut. Aber ich bin gesund, und du musst mich nicht mehr versorgen.«
    »Dann kommt Dr. Chaubert wohl nicht mehr, wenn du gesund bist.« Ginette kam ans Bett und nahm das Tablett mit dem leer gegessenen Teller.
    »Manchmal will er noch nach mir sehen.«
    »Na ja, lügen kannst du zwar schlecht, aber mir kann’s egal sein, ich hab dich gewarnt. Du handelst dir mit diesem Mann nur Kummer ein. Du bist so ein romantischer Typ, der an die große Liebe glaubt, ein gefundenes Opfer für abgebrühte Männer wie diesen Chaubert. Ich kann dir nur raten: Arbeite wieder, und verdiene dein eigenes Geld! Mach dich nie von einem Mann abhängig!«
    Mit den Ellbogen öffnete Ginette die Tür und verließ die Dachwohnung. Fleur hörte sie noch die Stufen zum dritten Stock hinuntergehen, wo sie in den Aufzug stieg, der sie rumpelnd nach unten brachte.
    Fleur streckte sich auf ihrem Bett aus. Ginette hatte sie vor Patrice gewarnt, doch es war zu spät. Seit drei Wochen war sie bereits seine Geliebte. Seine

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