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Die Stunde der Schwestern

Die Stunde der Schwestern

Titel: Die Stunde der Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Maybach
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Denise verstummte.
    »Ja«, gab ihre Schwester offen zu. »Ja, das habe ich. Ich wollte schwanger werden, damit er mich heiratet. Doch ich verlor das Kind und dann das zweite und auch ein drittes. Erst da habe ich begriffen, wie sehr ich mir immer ein Kind gewünscht habe.« Denise’ Stimme war nur noch ein tonloses Flüstern. Als Fleur keine Antwort gab, sondern nur einen erstickten Laut ausstieß, warf Denise ihrer Schwester einen forschenden Blick zu. »Geht es dir nicht gut?«
    Fleur war blass geworden und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
    »Mir ist so schlecht, entschuldige! Gleich geht es mir wieder besser.«
    Denise beobachtete sie misstrauisch. Und dann erkannte sie die Wahrheit: Fleur bekam ein Kind. Ausgerechnet ihre Schwester, die sowieso schon alles hatte, Geld, Ruhm und Liebe. Während sie kein Kind austragen konnte und seit Wochen eine Lüge lebte, war Fleur schwanger. Doch sie schien unglücklich zu sein. Scheu griff Denise nach Fleurs Hand. Sie spürte, dass jetzt nicht der Moment war, Fragen zu stellen. Noch nicht.
    So saßen die Schwestern auf dem Sockel des steinernen Engels und hielten sich an den Händen, wie sie es als Kinder getan hatten, als noch kein Neid und Hass zwischen ihnen stand.
    Sie sahen den Mann nicht, der sich hinter einem hohen Grabstein aus schwarzem Marmor versteckte und die beiden durch die Zweige einer Zypresse hindurch beobachtete. Es war Etienne. Er verbarg sich dort und konnte den Blick nicht von Fleur wenden, der Frau, die in ihm geheime sexuelle Wünsche geweckt hatte, Fleur, die er tief verachtete, aber gleichermaßen begehrte.
    Er stand im Verborgenen und beobachtete sie, wie er ihr schon seit zehn Jahren heimlich nachspionierte. Als Fleur dreizehn Jahre alt war, hatte er sie zum ersten Mal bemerkt. Das war in der Kirche gewesen, die sie mit ihrer Mutter und der Schwester sonntags besuchte. Die Mädchen hatten gekichert und geflüstert, und er hatte sie unauffällig, den Kopf über das Gesangbuch gebeugt, beobachtet.
    Er belauerte Fleur, wenn sie nachmittags aus der Schule kam. Damals schon hatte er sich vorgestellt, mit seinen Händen ihre kleinen, festen Brüste zu umspannen, mit seinen Lippen ihre weiche Haut zu küssen und sie zu streicheln, dort, wo noch kein Mann sie berührt hatte.
    Er hatte Fleur gewollt. Seit zehn Jahren beherrschte sie seine Gedanken und seine sexuellen Phantasien. Sie hatte ihn abgewiesen und ihn sogar ausgelacht. »Jeder Mann kann sie haben«, hatte ihm Denise ins Gesicht geschrien, »jeder, nur du nicht, Etienne. Sie verachtet dich.«
    Dafür musste Fleur büßen. Keine Frau durfte ihn auslachen, niemand hatte das Recht dazu. Etienne ballte die Fäuste, während er zu den Schwestern hinüberstarrte, bis sie sich erhoben und auf dem Kiesweg den Friedhof verließen.
    Sie hatten ihn nicht bemerkt.
    *
    Marguerite Aubry war eine einfache Frau. Einfach in ihrem Denken und in der Liebe zu ihrem einzigen Sohn, den sie nie in Frage stellte und den sie immer bewunderte. Als ihr Ehemann starb, war Etienne zehn Jahre alt gewesen, und wie selbstverständlich wuchs er in die Rolle von Marguerites Partner hinein. Sie war glücklich mit ihm und vermisste ihren verstorbenen Ehemann keinen Tag. Doch kurz nach Etiennes zweiundvierzigstem Geburtstag wurde diese Idylle zerstört: Marguerites geliebter Sohn ließ sich von Denise Déschartes, Tochter der Schneiderin Joselle, verführen und mit einer Schwangerschaft erpressen. Selbstverständlich hatte Etienne sich als Ehrenmann erwiesen und sie geheiratet.
    Marguerite hasste Denise, denn sie hatte ihr den geliebten Sohn genommen. Doch als sie vor einigen Wochen Zeugin der Vergewaltigung geworden war, änderte sich alles. Marguerites Welt brach zusammen. Wenn sie jetzt die Augen schloss, sah sie ihren Sohn vor sich, der auf seine Frau einschlug und ihr Gewalt antat. Nach diesem entsetzlichen Erlebnis war Marguerite Aubry eine gebrochene Frau.
    Heute hatte sie Denise zum ersten Mal wiedergesehen. Ihre Schwiegertochter war an dem »bewussten Tag« aus dem Haus gegangen und bis zu Joselles Tod bei ihrer Mutter geblieben. In dieser Zeit hatte Marguerite tiefe Ängste ausgestanden, Denise könnte ihren Sohn anzeigen oder weitererzählen, was passiert war. Nicht auszudenken, wenn man in Saint-Emile über Etiennes Untat reden und er vielleicht sogar verhaftet würde.
    Als sie von Joselles Tod erfuhr, hatte sie Etienne veranlasst, eine teure Beerdigung für seine Schwiegermutter zu bezahlen. Der Schein musste

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