Die Stunde der Schwestern
sie gebeugt hatte und die Feder ihres kleinen Hutes sie an der Wange kitzelte.
»Das ist Fleur, eine Tante«, hatte Denise gesagt, als die Frau sie küsste und ihr die Tränen über die Wangen liefen.
Hier riss der Film der Erinnerung, und was blieb, war ein unbestimmtes Gefühl von dunkler Angst.
Warum aber hatte ihre Mutter die Schwester verleugnet, deren Existenz ausgelöscht?
»Wir haben nur uns, Bérénice, wir brauchen auch niemanden«, hatte sie immer behauptet. Es gab keine Verwandten, keine Tanten und Onkel, der Vater Etienne Aubry war »ein böser Mensch«, und Großmutter Marguerite war gestorben, als Bérénice zwei Jahre zählte.
»Sie war eine böse Frau, die mir das Leben schwergemacht hat, mich ständig kontrollierte und mich belauerte. Etienne hatte zwei Frauen, seine Mutter und mich. Ich war froh, als sie starb«, hatte Denise ihr irgendwann einmal erzählt.
Bérénice musste sich jetzt beeilen. Sie stand auf, legte das gerahmte Foto vorsichtig auf den Tisch und ging ins Schlafzimmer, um ein paar Sachen in ihre Reisetasche zu werfen. Die Entscheidung, zu ihrer Mutter zu fahren, war richtig. Sie musste die ganze Wahrheit über die Vergangenheit erfahren, und die fing in Saint-Emile an, bei Denise Aubry-Déschartes, ihrer Mutter.
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12
Saint-Emile
I n Marseille hatte Bérénice den Anschlusszug verpasst und musste auf die nächste Verbindung warten. Sie war die Einzige, die nach zweimaligem Umsteigen am frühen Nachmittag in Saint-Emile aus dem Regionalzug stieg. Nur ein alter Mann döste auf der einzigen Bank des Bahnsteigs vor sich hin, sah kurz hoch und tippte mit seinem Finger grinsend an den ausgebeulten Hut. Dann sank sein Kopf wieder auf die Brust.
Bérénice nickte ihm zu, stieg die Treppe zur alten Unterführung hinunter und schlug den Weg in die Rue de la Gare ein. Ihre Mutter ahnte nicht, dass sie kam, und Bérénice zweifelte plötzlich an ihrer Entscheidung. Denise hatte die ganzen Jahre geschwiegen, warum also sollte sie ihr heute die Wahrheit sagen? Gab es überhaupt eine Wahrheit?
Bérénice’ Schritte wurden langsamer, je näher sie dem Haus in der Rue Boursicault kam. Einen kurzen Moment zögerte sie, bevor sie entschlossen die Tür öffnete. Tief über eine Seidenbluse gebeugt, saß Denise an der ratternden Nähmaschine. Als die Türglocke schrillte, hob sie den Kopf, und beim Anblick ihrer Tochter fuhr sie mit einem erschrockenen Laut hoch, während die Maschine auf der Bluse weiterratterte. Das entlockte Denise einen weiteren unwilligen Ausruf.
»Hallo«, begrüßte Bérénice ihre Mutter und versuchte, ihrer Stimme einen harmlos munteren Ton zu geben. »Ich dachte, du bist krank.«
»Nun«, Denise war sichtlich verlegen, »es geht mir wieder besser.«
Nervös zog sie die Seidenbluse aus der Maschine. »Wieso hast du nicht angerufen, dass du kommst?« Ihre Stimme klang misstrauisch, als sie ihrer Tochter einen raschen Blick zuwarf und die Fäden aus der Bluse zog.
»Ich wollte dich überraschen. Es war einfach ein spontaner Einfall.«
Mutter und Tochter sahen sich schweigend an. In dem Gesicht von Bérénice war nichts zu erkennen als Freundlichkeit, und Denise entspannte sich.
»Komm, gehen wir rauf in die Küche! Ich mache dir einen Kaffee«, schlug sie vor, und Bérénice folgte ihr die Wendeltreppe hinauf. Oben mussten sie erst einmal Stoffrollen und mehrere Kartons zur Seite schieben, um in die Küche zu gelangen.
»Maman, du musst endlich entrümpeln, das Chaos verschlimmert sich von Jahr zu Jahr. Du musst lernen wegzuwerfen. Seit Jahrzehnten hebst du alte Schnittmuster, Stoffe und alles Mögliche auf. Jetzt kommt man nicht einmal mehr in die Küche. So kannst du doch nicht leben!«
»Das ist nur vorübergehend«, erwiderte Denise abwehrend. »Irgendwann entrümple ich, aber dann werfe ich vielleicht genau die Sachen weg, die ich noch brauche. Das ist schwierig, sehr schwierig.«
Auch in der Küche herrschte Durcheinander, und Bérénice zwängte sich auf den Klappstuhl, der unter dem Fenster an dem kleinen Tisch stand. Sie erzählte von der Zugfahrt und dass sie den ersten Anschlusszug in Marseille verpasst hatte. Denise kochte Kaffee und stellte ihn mit einem Korb Croissants auf den Tisch. Sie waren nicht mehr frisch, doch Bérénice war hungrig. Denise blieb schweigend an den Herd gelehnt stehen und sah ihrer Tochter zu, wie sie aß und den heißen Kaffee trank. Plötzlich wandte sie ihren Kopf ab und sah durch die fast blinden Fensterscheiben
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