Die Stunde der Schwestern
spitzte die Lippen und seufzte noch einmal, plapperte aber dann weiter: »In den drei Jahren mit Fleur hatte auch ich eine sehr schwierige Zeit. Ich war unglücklich und wollte mich mehrmals von Georges trennen. Bis ich erkannte, dass er uns beide brauchte. Und letztendlich war ich seine Ehefrau, und ich wusste, ich würde Fleur überleben, genau wie ich die vielen kleinen Flittchen überlebt hatte, mit denen Georges schlief. Ich vermisse ihn so sehr, ich vermisse ihn jeden Tag«, klagte sie unvermittelt, senkte den Kopf und strich sich über die dunklen Augenbrauen. Doch dann veränderte sich ihre Stimme, sie wurde sachlich und unpersönlich, als sie Bérénice bat, sie jetzt zu entschuldigen.
»Ich bin müde, ich habe in den vergangenen Tagen einfach zu viel gearbeitet.«
Offensichtlich bereute sie es, aus Einsamkeit und unter dem Einfluss des Alkohols so viel preisgegeben zu haben. Sie erhob sich, indem sie sich an der beschädigten Lehne des Korbstuhls hochzog.
»Einmal«, fügte sie noch hinzu, »und daran erinnere ich mich noch, ich glaube, wir waren damals zu Aufnahmen in Rom, erzählte Fleur meinem Mann und mir von ihrer Schwester und ihrer Kindheit in der Provence. In irgendeinem kleinen Ort …«
»Saint-Emile?« Bérénice’ Herz schlug heftig, als sie nach Adriennes Arm griff und sie festhielt.
»Ja, ja, ich glaube, so hieß der Ort. Aber ich habe doch ein so schlechtes Gedächtnis, wie oft soll ich Ihnen das noch sagen?« Adrienne seufzte und befreite sich aus Bérénice’ Griff.
»Hallo?«, hörten die beiden eine Männerstimme aus der Galerie.
»Oh, ich habe vergessen abzusperren«, sagte Adrienne verwirrt, flatterte in ihrem Plisseekleid zur Tür und kam sofort wieder zurück.
Hinter ihr tauchte Jean Bergé auf.
»Ihr Freund ist da«, rief sie anzüglich durch den stillen Innenhof. Der Fotograf nahm seine Sonnenbrille ab, kam mit einem Lächeln auf Bérénice zu und küsste sie auf beide Wangen. Ein wenig förmlich, fand sie, wahrscheinlich hatte er den Kuss von damals längst vergessen. Jean trug eine dunkle Lederjacke, deren Kragen hochgestellt war, einen Rollkragenpulli und Jeans. Er war braun gebrannt und sah »verdammt gut aus«, wie Adrienne durch den Hof posaunte.
»Jean wird im Februar eine Ausstellung seiner Fotos in der Galerie machen, Eröffnung ist in der Zeit der Couture-Shows«, verkündete sie.
»Adrienne, Süße, musst du immer alles ausplaudern?«
Die Frage beantwortete Adrienne mit einer koketten Bewegung ihres Kopfes und ließ dabei ihre langen Ohrgehänge klirren.
»Hätten Sie Lust, mit mir essen zu gehen?«, flüsterte Jean Bérénice zu, bevor Adrienne neben ihnen stand.
»Nein, tut mir leid.« Bérénice lehnte ab. In Sekundenschnelle hatte sie eine Entscheidung getroffen. »Ich muss mich beeilen, ich will den Abendzug nach Marseille nehmen und zu meiner Mutter fahren.«
»Ich kann Sie zur Gare de Lyon bringen, und wir essen unterwegs etwas.« Jean blieb hartnäckig. »Ich kenne ein sehr nettes kleines Restaurant in der Nähe des Bahnhofs.«
Wieder lehnte Bérénice ab. Sie wollte sich durch nichts und von niemandem von ihrem Entschluss abbringen lassen, auch von Jean nicht. Gerade von Jean nicht, der sich monatelang nicht bei ihr gemeldet hatte.
Sie küsste Adrienne zum Abschied auf beide Wangen. Doch dann konnte sie sich eine Frage nicht verkneifen: »Wissen Sie, was aus Fleurs Kind geworden ist?«
»Chérie!«
Adrienne reagierte genervt und hängte sich bei Jean ein. »Haben Sie nicht zugehört? Es gab kein Kind, Fleur hat abgetrieben.«
*
Bérénice hastete die Rue Bonaparte hinunter bis zum Quai Voltaire. Doch auch hier bekam sie kein Taxi, und fast bereute sie es, Jeans Angebot abgelehnt zu haben. Sie vergaß jede Vorsicht, rannte auf die Straße und winkte mit beiden Armen, bis endlich ein Taxi hielt und der Fahrer sie schlecht gelaunt durch den dichten Freitagabendverkehr nach Hause brachte. Sie hetzte die vier Stockwerke hoch, denn sie konnte es kaum erwarten, Fleurs Foto auszupacken und es genauer anzusehen. Sobald sie aus Saint-Emile zurückkam, wollte sie es aufhängen. Sie setzte sich damit aufs Sofa, aufmerksam prägte sie sich jedes Detail dieses Gesichts ein. In den vergangenen Wochen hatte sie mehrmals an der Petite Galerie des Arts vor dem Schaufenster mit Fleurs großem Foto gestanden.
Wie schon oft suchte sie auch jetzt in ihrem Gedächtnis nach weiteren Erinnerungen. Doch es gab nur diesen einen Augenblick, als sich eine Frau über
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