Die Stunde der Schwestern
langen Glastisch, auf dem sich die gerahmten Fotos stapelten.
»Ich verkaufe Ihnen nichts«, sagte sie, »aber ich schenke Ihnen eines. Suchen Sie sich was aus!«
Bérénice bedankte sich, und ohne zu überlegen, griff sie nach dem Schwarzweißfoto, das ihr so gut gefallen hatte. Fleur sah ernst und forschend in die Kamera, nur ein kleines Lächeln lag auf ihren Lippen.
»Eine gute Wahl«, versicherte ihr Adrienne. »Das ist Fleur, so wie sie war.«
Sie steckte das gerahmte Bild in eine Tragetasche mit dem Logo der Galerie und drückte diese Bérénice in die Hand. Heute trug sie ein grünes, plissiertes Kleid von Issey Myake. Adrienne bemühte sich, extravagant auszusehen, doch sie hatte ein stark gealtertes Gesicht, das in scharfem Kontrast zu ihren tiefschwarzgefärbten Haaren stand. Ihre Ohrläppchen wurden durch die schweren Amethystohrringe weit nach unten gezogen, und ihre Figur, die sie selbst vielleicht als mädchenhaft zierlich empfand, war ausgemergelt, wenn auch noch sehr agil.
»Nun?«, fragte Adrienne spöttisch. »Gefalle ich Ihnen nicht? Das muss es nicht, ich gefalle mir auch nicht mehr.«
Ihre Bemerkung brachte Bérénice in Verlegenheit, und sie überging sie. »Ich hätte noch ein paar Fragen, will aber nicht aufdringlich sein. Haben Sie etwas Zeit?«
Adrienne lachte laut auf. »Zeit ist genau das, was man in meinem Alter im Überfluss hat. Wissen Sie was? Wir setzen uns in den Hof, denn draußen ist es noch warm. Möchten Sie ein Glas Pouilly Fumé mit mir trinken? Ich mag diesen frischen, leichten Weißwein von der Loire.«
»Gern.« Bérénice nickte. Adrienne verschwand in einer kleinen Küche, die zur Galerie gehörte. Als sie zurückkam, schwenkte sie in einer Hand die Weinflasche und in der anderen zwei Gläser und einen Korkenzieher.
»Kommen Sie!«, forderte sie Bérénice auf, die ihr in den kleinen Innenhof folgte. Während sich Bérénice in einen der alten Korbstühle setzte, öffnete Adrienne die Flasche und füllte die Gläser. Bérénice sah sich um. Ihr gefiel der kleine Innenhof mit seinen dichten Oleandersträuchern, an denen braune Blätter und ein paar letzte rosa Blüten hingen.
»Die Galerie und das Haus gehören mir«, erzählte Adrienne und prostete Bérénice im Stehen zu. »Dort drüben vis-à-vis von hier wohne ich.« Sie zog sich den zweiten Korbstuhl heran und setzte sich. »Georges und ich gingen Anfang der sechziger Jahre nach New York. Wir kauften uns ein Haus in den Hamptons. Damals waren die Preise noch niedrig. Nach Georges’ Tod vor zwölf Jahren verkaufte ich es mit großem Gewinn und kam nach Paris zurück.«
Adrienne hatte ihr Glas ausgetrunken und schenkte sich sofort nach. »Schmeckt Ihnen der Wein nicht?« Sie sah Bérénice an und stieß einen kleinen Schrei aus. »Jetzt sehe ich es erst, ich bin ja eine so unaufmerksame alte Schachtel!«, rief sie. »Sie haben sich die Haare schneiden lassen, à la Fleur, stimmt’s? Steht Ihnen gut«, fuhr sie fort, bevor Bérénice antworten konnte. »Sind Sie sicher, dass Sie nicht mit Fleur verwandt sind?«
Während Bérénice mit einer Antwort zögerte, sprach Adrienne bereits weiter: »Also, was wollen Sie wissen?«
»Alles, einfach alles über Fleur«, bat Bérénice und sah zu, wie Adrienne sich zum zweiten Mal nachschenkte, während sie selbst an ihrem Glas nur nippte. »Wie war ihr Nachname?«, wollte sie wissen.
»Kindchen, das ist genau die Frage, die ich Ihnen nicht beantworten kann. Wir kannten die Mädchen nur mit ihren Vornamen. Bettina, Suzy, Fleur. Lediglich die Agenturen kannten die vollständigen Namen. Aber um es gleich vorwegzunehmen, Fleurs Agentin war Dorian Reed, die ist Anfang der Siebziger gestorben, und die Agentur wurde nicht weitergeführt. Also bleibt ihre erste Frage unbeantwortet.« Bedauernd hob Adrienne ihre knochigen Schultern. »Aber ich kann Ihnen sonst vieles erzählen«, fuhr sie lebhaft fort. »Interessiert es Sie, wie sie entdeckt wurde?«
Schon bevor Bérénice nickte, fing Adrienne an zu erzählen, als habe sie nur auf dieses Stichwort gewartet.
»Georges hat sie in der Bar des Théâtres aufgelesen. Dann bestellte er sie zu Probeaufnahmen, und ich erinnere mich noch, dass sie völlig durchnässt und viel zu spät zum Termin kam. Sie sah grässlich aus mit ihren Locken, ihrem Make-up und dem schwarzen Lidstrich. Doch Georges machte aus dem kleinen Provinzmädchen in kürzester Zeit eine Göttin der Haute Couture.« Adrienne seufzte tief auf. »Ich war
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