Die Stunde der Schwestern
hinaus in den trüben Himmel.
»Ich bin keine Närrin«, begann sie unvermittelt, ohne Bérénice anzusehen. »Du bist gekommen, um mich auszufragen. Du setzt mich unter Druck«, fügte sie klagend hinzu und presste ihre Lippen aufeinander.
Bérénice blieb einen Moment still und legte das zweite Croissant zurück in den Korb.
»Es ist richtig. Ich bin gekommen, um mit dir zu sprechen. Ich will die Wahrheit wissen«, sagte sie ruhig.
»Was soll das sein?« Denise lachte gekünstelt auf. »Du kennst die Wahrheit, du weißt, ich war dir immer eine gute Mutter, auch als dein Vater sich von mir scheiden ließ. Ich weiß nicht, was es sonst noch zu erzählen gibt.«
»Hör auf, so feige zu sein!« Bérénice’ Stimme bebte, und ihr Herz schlug heftig. Sie war gekommen, um sich mit ihrer Mutter auszusprechen. Doch jetzt stand Feindseligkeit zwischen ihnen. Denise drehte ihrer Tochter den Rücken zu und machte sich an der Spüle zu schaffen.
»Ich weiß nicht, was du meinst«, flüsterte sie, während sie heißes Wasser über einen Stapel ungespülter Teller laufen ließ.
Bérénice sah, wie die Hände ihrer Mutter zitterten, und sie erkannte, dass auch Denise sich vor diesem Moment gefürchtet hatte. Dem Moment, in dem Béréncie zu ihr kam, um die Wahrheit einzufordern.
»Wer war Fleur?«
Bérénice hörte sich selbst die Frage stellen und war erstaunt, wie ruhig ihre Stimme klang, ruhig und unnachgiebig. Denise drehte den Hahn zu, blieb aber mit dem Rücken zu ihrer Tochter stehen, und trotzdem nahm Bérénice ihre Angst wahr.
»Sag mir einfach, ob Fleur deine Schwester, also meine Tante war.«
Denise atmete ein wenig keuchend, doch dann drehte sie sich abrupt um und sagte, ohne Bérénice anzusehen: »Ja, sie war deine Tante, das ist richtig.«
Sie lehnte sich fest gegen die Spüle und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Fleur und ich wuchsen hier auf.« Hastig sprach sie weiter, damit Bérénice keine weiteren Fragen stellen konnte: »Fleur war schön, und sie war der Liebling unserer Mutter. Sie durfte auf das
Lycée des jeunes filles
gehen, während ich eine Schneiderlehre machen musste.«
Denise schlug mit einem Klagelaut ihre Hände vors Gesicht. Schweigend beobachtete Bérénice sie und erkannte, dass Denise ihr ein Theater vorspielte, um ihr Mitleid zu erregen. Doch sie schwieg, und ihre Mutter ließ die Hände wieder sinken.
»Als Fleur zwanzig Jahre alt war«, erzählte Denise nach einem kleinen Seufzer weiter, »ging sie nach Paris. Einfach so. Sie verließ Maman und mich und ging weg. Das war an dem Tag, als ich deinen Vater heiratete. Sie verließ Saint-Emile am Tag meiner Hochzeit. Verstehst du, wie rücksichtslos das war? Sie wollte bei meinem großen Tag nicht dabei sein, und Maman war traurig, dass ihre Lieblingstochter sie verließ. Also hatte auch sie keinen Spaß an dem großen, an
meinem
großen Fest. Fleur war eine Egoistin.«
»Und weiter?« Bérénice ging auf die Klagen ihrer Mutter nicht ein. Denise weinte und putzte sich die Nase, doch Bérénice durchschaute sie. Die Mutter wollte sie nach wie vor daran hindern, weitere Fragen zu stellen.
»Fleur wurde ein Starmannequin«, erzählte Denise schließlich. »Aber wir existierten nicht mehr für sie. Wir waren ihr nicht fein genug, obwohl ich mit Etienne Aubry verheiratet war. Aber sie wollte von uns, von Maman und mir, nichts mehr wissen. Wir erfuhren nur durch die Klatschpresse von ihrem Lebenswandel und den unzähligen Affären. Sie ging ihren eigenen Weg und tauchte erst am Tag von Mamans Beerdigung wieder auf.«
»Und dann?«
»Was, dann?« Denise’ Stimme eskalierte in schriller Hysterie. »Was heißt,
dann?
Nichts … nichts … Eines Tages ist sie verschwunden, und ich habe sie nie wiedergesehen.«
»Du lügst, das spüre ich.«
Bérénice versuchte, sich zu beherrschen, obwohl ihre Hände zitterten und ihre Stimme fast versagte.
»Du lügst«, wiederholte sie, »ich sehe es dir an. Ich weiß es, denn ich habe eine Erinnerung an sie. Fleur hat sich über mich gebeugt und mich aus meinem Kinderwagen gehoben. Sie küsste mich, und ich weiß noch ganz genau, dass sie einen kleinen Hut trug und die Feder mich kitzelte.«
Denise’ Gesicht wurde aschfahl. »Nein, nein, das bildest du dir ein. Das muss irgendeine Frau hier aus Saint-Emile gewesen sein. Du warst so ein hübsches Kind und … Nein, nein, nicht Fleur, nein, nein, nicht Fleur.«
»Wo ist Fleur jetzt? Wo lebt sie? Oder ist sie gestorben?«
»Das
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