Die Stunde der Schwestern
ab, während sich die anderen Kinder längst alleine auf den Weg machen durften. Für Bérénice war diese Fürsorge ihrer Mutter peinlich gewesen, erst als sie aufs Gymnasium ging und mit dem Schulbus fuhr, ließ die Überwachung allmählich nach. Doch das Feindbild »Dein Vater ist böse« hielt Denise aufrecht. Und irgendwann hatte sich Bérénice daran gewöhnt, nur eine Mutter, aber keinen Vater zu haben. Manchmal aber hatte sie gespürt, dass Etienne sie beobachtete, dass er sie verfolgte, wenn sie als junges Mädchen aus der Schule kam.
»Willst du Hippolyte treffen?« Da Bérénice in Gedanken versunken schien, lenkte Denise das Gespräch rasch auf die Gegenwart. Wieder drehte sie Bérénice den Rücken zu und holte einen Becher aus dem Hängeschrank über der Spüle. Während sie sich Kaffee einschenkte, sprach sie schnell weiter: »Aber ich warne dich. An deiner Stelle würde ich das nicht tun. Diese Deutsche wohnt mit ihrem Hund bei ihm, obwohl ihr beide noch nicht geschieden seid.«
»Das spielt keine Rolle.« Bérénice verteidigte ihren Mann und wollte nicht zugeben, wie tief es sie traf.
Denise trank ihren Kaffee in langsamen Schlucken aus und stellte den Becher in die Spüle. »Ich muss jetzt weiterarbeiten«, erklärte sie. »Meine Kundin holt die Bluse heute Abend ab. Wenn du was brauchst, sag es mir.«
Sie verließ die Küche und signalisierte damit, dass das Gespräch beendet war. Bérénice erhob sich und folgte ihr. Tief in Gedanken beobachtete sie Denise, wie sie die Treppe hinunterstieg, mit dem gesunden Bein voran, das steife zog sie von Stufe zu Stufe nach. Bérénice ging in die Küche zurück, spülte das Geschirr ab und strich die Krümel von der fleckigen Tischdecke. Dann wandte sie sich zum Bad, dessen Tür angelehnt war. Sie ging aber nicht auf, ohne dass Bérénice energisch dagegendrückte. Der Anblick, der sich ihr bot, entsetzte sie. Auch hier lagerten Stoffrollen, in der Badewanne stapelten sich Schachteln mit Knöpfen und Nähseiden, und nur das Waschbecken war frei. Kopfschüttelnd verharrte Bérénice einen Moment und ging zur Treppe. Direkt daneben lag auf dem Boden ein hoher Stapel alter Modehefte. Offenbar räumte Denise hier ständig um, doch wegwerfen konnte sie nichts. Aber wie schaffte sie das nur jeden Tag mit ihrem steifen Bein?
Bérénice stieg die Wendeltreppe hinunter und blieb auf der letzten Stufe stehen. Stumm sah sie ihrer Mutter zu, die unter dem nachdenklichen Blick ihrer Tochter nervös weiternähte.
»Wenn du willst, bleibe ich zwei Tage hier und miste die Wohnung aus. Du kannst doch nicht in diesem Chaos leben!«
»Nein.« Denise reagierte heftig. »Nein, das will ich nicht! Du musst mich auch nicht wie eine senile Alte behandeln, die nicht mehr ganz richtig im Kopf ist. Alles, was obenauf liegt, brauche ich noch. Ich möchte nicht, dass du irgendetwas anrührst, hast du verstanden?«
»Nun, wenn du nicht willst, dann eben nicht.« Es war ein Friedensangebot von Bérénice gewesen, doch Denise hatte es als Bevormundung empfunden.
»Ich bringe dann mal meine Tasche hoch.« Bérénice hatte sie auf dem Zuschneidetisch abgestellt, als sie nach oben gegangen waren.
»Wie lange willst du hierbleiben?« Denise ließ die Maschine weiterrattern, ohne ihre Tochter anzusehen.
»Ich weiß nicht, vielleicht bis morgen Abend. Ich muss noch einmal mit dir reden«, fügte sie hinzu.
»Es gibt nichts zu reden, hast du das immer noch nicht verstanden?«, erwiderte Denise heftig.
»Fleur war schwanger. Was ist aus dem Kind geworden?«
Abrupt hörte das Rattern auf. Denise saß erstarrt auf ihrem Arbeitsstuhl und legte die Hände in den Schoß. Doch dann erhob sie sich langsam und rückte den Stuhl an den Nähmaschinentisch. Mit einer Hand fuhr sie sich durch das graue Haar, und mit der anderen strich sie ihre Schürze glatt.
»Es gab kein Kind«, sagte sie, jede Silbe akzentuierend. »Hörst du? Es gab kein Kind. Ja, ich erinnere mich, Fleur war schwanger, aber sie hat abgetrieben. Auch das war eine Sünde, die sie begangen hat.«
»Woher weißt du das so genau?« Bérénice wurde misstrauisch.
Denise kam auf sie zu, packte sie an beiden Armen und schrie schluchzend auf: »Es gab kein Kind, verstehst du? Fleur hatte kein Kind!«
Unwillig befreite sich Bérénice aus dem Griff ihrer Mutter. Denise schien außer sich zu sein.
»War ich dir nicht immer eine gute Mutter? Sag es mir! War ich dir nicht immer eine gute Mutter?« Denise konnte nicht aufhören zu
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