Die Stunde der Schwestern
weiß ich nicht, ich weiß es nicht«, rief Denise gequält. »Hör auf, mir Fragen zu stellen! Fleur war ein … ein lebenshungriges, egoistisches Ding, eine, die es mit allen trieb. Ja, so war sie. Ich habe den Kontakt zu ihr verloren, und sie hat sich nie mehr gemeldet. Sie ging weg, einfach so. Aber das hat unser Vater ja auch getan. Eines Tages war er verschwunden, und wir haben ihn nie wiedergesehen. So war Fleur auch. Sie fuhr nach Marseille und nahm dort das nächste Schiff nach Nordafrika. Dort wollte sie zuerst einmal bleiben, doch ihr großes Ziel war Brasilien, glaube ich. Das ist alles.« Denise rang nach Atem und presste beide Hände auf ihr Herz.
Bérénice wartete schweigend ab, bis sich ihre Mutter beruhigt hatte. »Warum hast du mir nie von ihr erzählt oder mir Fotos von ihr gezeigt? Das wäre doch normal gewesen.«
»Ich wollte sie vergessen, so wie sie uns vergessen hat. Wir haben sie aus unserem Leben gestrichen.«
»Was heißt
wir?
Ich dachte, Großmutter Joselle war schon tot?« Denise verbarg etwas, und Bérénice spürte es genau.
»Nun
, ich
strich sie aus meinem Leben und später auch aus deinem. Ich wusste ja, dass sie nicht mehr zurückkommen würde.«
»Woher hast du das gewusst?«
»Ich wusste es eben.«
»Wer hat dir erzählt, dass sie mit dem Schiff nach Nordafrika fuhr? Woher weißt du das, hat sie sich mal gemeldet?«
Denise drückte die Hände gegen ihren Busen und atmete keuchend ein. »Ich bekomme Herzschmerzen, schnell, hole mir mein Medikament, es steht auf dem Nachttisch!«
Bérénice erhob sich rasch und ging ins Schlafzimmer, suchte die kleine Flasche und sah sich dabei flüchtig um. Auch hier herrschte Chaos, doch es hielt sich in Grenzen. Auf dem breiten Fensterbrett stapelten sich neben- und übereinander verstaubte Ordner, und Stoffrollen lehnten an den Wänden. Schnell ging sie zurück und sah Denise zu, wie sie einige Tropfen in Wasser auflöste und dann das Glas austrank.
»Also, Maman, woher weißt du, dass Fleur ein Schiff nach Nordafrika nahm und dann nach Südamerika wollte?«
»Ein entfernter Verwandter aus Marseille hat es mir geschrieben. Fleur hatte ihn vor ihrer Abreise noch besucht.«
»Wie heißt dieser Verwandte?«
»Soll das ein Verhör werden?« Wieder brach Denise in Tränen aus. »Ich habe nichts zu verbergen, und dieser Cousin ist längst gestorben.«
Bérénice überlegte, Denise blockte die Fragen geschickt ab, also wechselte sie das Thema. Sie empfand Mitleid mit ihrer Mutter, und doch wollte sie jetzt nicht nachgeben, da sie offensichtlich der Wahrheit auf der Spur war.
»Warum hast du dich scheiden lassen? Hat das etwas mit Fleur zu tun?«
»Es war dein Vater, der sich von mir getrennt hat«, verteidigte Denise sich. »Er ist jähzornig, gewalttätig, er hat mich geschlagen. So, jetzt weißt du auch das. Werde glücklich damit! Ich habe dir alles gesagt, wovor ich dich schützen wollte.«
»Ich bin erwachsen, du musst mich nicht mehr schützen. Ich will einfach nur die Wahrheit erfahren.«
Denise überhörte den Einwand, mit fahrigen Händen fuhr sie sich über die Schürze und nestelte an den Trägern herum.
»Ich musste dich vor ihm schützen«, betonte sie noch einmal, »also verbot ich dir, ihn zu sehen.«
Bérénice’ Erinnerung an ihren Vater war ungenau. Hatte er ihr nicht viele Spielsachen geschenkt und sie seine Prinzessin genannt? Hatte er nicht sogar eine Türglocke mit ihrem Lieblingslied installieren lassen?
Frère Jacques, Frère Jacques, dormez-vous?
Sonnez le matines,
Ding, dang, dong …
Dieses
Ding, dang, dong
hatte sie noch im Ohr. Aber einmal, da klang es so unheimlich, oder hatte sie das nur geträumt?
Wieder erinnerte sie sich schemenhaft an einen dunklen Abend. Ihre Mutter rannte über die Place de la Victoire und zerrte sie an der Hand hinter sich her. Bérénice war barfuß, und es war so kalt, dass ihre Füße schmerzten und brannten. Aber sie musste noch sehr klein gewesen sein. Später hatte sie erfahren, dass sie nach diesem Abend sehr lange krank gewesen war. Danach wohnten sie in dem Haus in der Rue Boursicault, und sie durfte nicht mehr zurück zu ihrem Vater in das Apothekerhaus. Bérénice überlegte. Sie war damals schon in den Kindergarten gegangen, also musste sie vier Jahre alt gewesen sein.
»Dein Vater ist böse«, hatte Denise ihrer kleinen Tochter stets eingeschärft. »Er liebt uns nicht, glaube mir!«
Jeden Tag brachte Denise Bérénice zur Schule und holte sie auch wieder
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