Die Stunde der Schwestern
anrufst. Gibt es irgendeinen Grund?«
»Ja, ich bin in Saint-Emile. Ich habe mich mit meiner Mutter gestritten, mit meinem Vater gesprochen und den letzten Zug nach Marseille verpasst. Das ist die Kurzversion.«
Hippolyte lachte. »Wo bist du jetzt?«
»Unten, auf unserer Bank am Boule-Platz.«
»Bleib dort sitzen! Ich hole dich ab.«
Hippolyte legte sofort auf, und Bérénice ließ ihr Handy langsam in die Tasche gleiten. Dann holte sie ihren kleinen Taschenspiegel heraus. Rasch fuhr sie sich mit der Hand durch die kurzen Haare und zog die Lippen nach. Ob Hippolyte ihre neue Frisur und der dunkelrote Lippenstift auffallen würden? Ihre eigene Mutter hatte ihr kaum einen Blick geschenkt. Und wie würde Hippolyte auf die Veränderung reagieren, würde sie ihm gefallen? Sie hatte ihren Mann seit dem Tag nicht mehr gesehen, an dem er sie verließ.
Nach einer halben Stunde bremste ein Pick-up direkt vor Bérénice, und Hippolyte sprang heraus. Stumm sahen sie sich an und blieben zögernd voreinander stehen, bis er sie an sich zog. Als sie sich vorsichtig voneinander lösten, lächelten beide. »Wie schön du bist«, ergriff Hippolyte das Wort. »Du hast dir die Haare schneiden lassen, das steht dir gut. Und wie immer elegant gekleidet.«
»Unsinn«, wehrte sie ab. »Nur eine Hose und ein Pullover.«
»Du siehst immer elegant aus, egal, was du trägst«, stellte Hippolyte fest. »Auch wenn du ganz einfach gekleidet bist.«
Bérénice unterdrückte ein Lächeln. Der graue Pullover war aus teurer Kaschmirwolle, und die Hose stammte aus Maximes letzter Herbstkollektion. Sie kletterte auf den Beifahrersitz, und schweigend fuhren sie über den Platz und dann die steinige Bergstraße zum
Maison Bleue
hinauf. Hippolyte konzentrierte sich aufs Fahren, und Bérénice beobachte ihn verstohlen. Er hatte sich verändert. Er war wieder schlank und sehnig, sein Gesicht sonnengebräunt, und er strahlte Selbstsicherheit und Energie aus. Er gehört hierher, dachte Bérénice. Er ist glücklich hier.
Als sie an dem alten Olivenbaum vorbeifuhren, zog Hippolyte sie spontan an sich, und beide lächelten. Sie dachten an den Morgen ihrer Hochzeit, als Bérénice den Weg heraufgeradelt kam, um sich noch vor der Zeremonie in Hippolytes Arme zu werfen.
Vor dem Haus hielt Hippolyte an, sprang heraus, ging um den Pick-up herum und half Bérénice beim Aussteigen.
»Schön, dass du da bist«, sagte er und lächelte sie an. »Komm!«
Bérénice fühlte sich befangen, als sie das Haus betrat, in das sie vor zwanzig Jahren als junge Braut gekommen war und das sie vor vier Jahren verlassen hatte. Es roch nach getrocknetem Lavendel und dem Bohnerwachs, mit dem die Holzböden behandelt wurden. Ein Geruch der Vergangenheit, die schön begann und in einem Alptraum endete.
»Ich hätte einen Lammbraten und Rosmarinkartoffeln anzubieten. Hast du Hunger?«
Bérénice nickte. »Sehr sogar«, bekannte sie, »ich habe bei meiner Mutter nur ein altes Croissant gegessen.«
Sie war froh, als Hippolyte ihr vorschlug, sich vor dem Essen noch im Bad frisch zu machen.
»Kann ich bei dir duschen?«, fragte sie, denn jetzt war es Hippolytes Zuhause und sie nur sein Gast.
»Selbstverständlich. Es ist alles so, wie es immer war. Der Mann, der das Weingut übernommen hatte, dieser Elsässer, stellte unsere Möbel auf den Speicher, und als ich zurückkam, waren sie alle noch da. Ich habe nur ein neues Bett gekauft und verschiedene Küchengeräte installieren lassen. Ansonsten ist es so wie früher.«
Wie früher, hämmerte es in Bérénice’ Kopf, während sie die Treppe hochstieg. Nichts war so wie früher, alles hatte sich verändert.
»Du kannst meinen weißen Bademantel anziehen, wenn du magst«, rief Hippolyte aus der Küche herauf, als sie in dem großen, alten Badezimmer stand.
Der Boden war schwarz-weiß gefliest, und unter dem Fenster stand die altmodische Badewanne mit den geschwungenen Füßen. Auf der anderen Seite des Raums befand sich noch immer der große Holzschrank, dessen Tür meist von allein knarrend aufsprang, wenn man daran vorbeiging. Das Holz und das altmodische Schloss hatten sich durch Dampf und Feuchtigkeit verzogen, doch er sah immer noch so schön und beeindruckend aus. Über dem Waschbecken mit dem Sockel hing der Spiegel mit dem breiten Goldrand, der an vielen Stellen abgesplittert war. Bérénice stellte ihre Tasche auf den Korbstuhl neben der Badewanne und zog sich aus. Dann ging sie unter die Dusche, wusch sich die Haare
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