Die Stunde der Schwestern
plötzlich diese Vision, diese Erinnerung, du siehst ihr so ähnlich.«
Etienne schien sich gefangen zu haben. Er kniff die Augen hinter der dicken Brille zusammen und blinzelte Bérénice entgegen. Er war grau im Gesicht, und seine Reaktion erschreckte Bérénice, denn sie glich dem Entsetzen ihrer Mutter, als sie diese nach Fleur gefragt hatte.
»Was willst du?«, fragte er tonlos. »Was suchst du hier?«
»Die Wahrheit«, antwortete Bérénice, »einfach nur die Wahrheit.«
»Welche Wahrheit? Was redest du für einen Unsinn?«
Etienne atmete laut, und es klang wie das Schnauben eines angeschossenen Tieres. Vielleicht lag es an diesem Atmen, an der Zerbrechlichkeit des alten Mannes, dass Bérénice sich ihm gegenüber hilflos fühlte. Er war ihr Vater, doch er weckte keine Emotionen in ihr. Aber war dieser schmächtige Mann wirklich gewalttätig gewesen, wie Denise es behauptete?
»Lass die Vergangenheit ruhen!«, sagte Etienne mit müder Stimme. »Du kannst sie nicht mehr ändern. Lebe dein Leben, Bérénice, und komme nicht mehr hierher zurück, hörst du? Nie mehr. Und stelle keine Fragen. Es ist das Beste für dich, glaube mir!«
Bérénice fröstelte. Die Stille des Raums, der Geruch nach Moder, nach Freudlosigkeit und trostloser Vergangenheit erschreckte sie zutiefst. Sie sah an Etienne vorbei, und ihr Blick fiel auf die paar Stufen, die zur offenen Tür der Wohnung führten. Hinter ihr führte die Treppe in den ersten Stock hinauf.
Dort hatte sie gesessen, es war dunkel gewesen und kalt. Maman, wo bist du? Komm nach Hause! Entsetzen hatte sie gepackt, es war so dunkel, und dann …
Wieder entglitt Bérénice die Erinnerung. Sie versuchte, sich gegen diese Gefühle der Angst, des Entsetzens zu wehren, und schaute Etienne an. Die Einsamkeit des alten Mannes schien greifbar, und auch sie glich der von Denise. Obwohl Etienne ein angesehener, reicher Mann war, stand er in seinem hohen Alter noch Tag für Tag in diesem dunklen Raum, um Medikamente und selbstgemischte Kräutertees zu verkaufen. Denise saß in ihrer Schneiderei und nähte für andere Leute. Die beiden waren sich so ähnlich, fast schienen sie verbunden in ihrer Trostlosigkeit, doch bei Etienne spürte Bérénice noch etwas anderes, Rastlosigkeit, Angst und …
Etienne ignorierte jetzt Bérénice, überging ihre Anwesenheit und konzentrierte sich wieder auf seine Fläschchen. Sie blieb stehen, als er sie auch weiterhin nicht beachtete, verließ sie mit einem gemurmelten Gruß die Apotheke und flüchtete von diesem Ort der Hoffnungslosigkeit.
Auf der Place de la Victoire, inmitten des Gedränges und lauten Rufens, des Lachens und Feilschens der Leute, fiel ihr ein, was sie bei Etienne noch gespürt hatte: Schuld.
Ziellos ließ sie sich treiben, lief zwischen den Ständen hindurch, schaute auf das Obst und Gemüse, ohne zu sehen, was vor ihr lag. Im Café La Danseuse setzte sie sich auf die Terrasse und bestellte einen Kaffee. Sie nahm ihre Umgebung kaum wahr, und sie hatte jedes Gefühl für Zeit verloren. Beim zweiten Kaffee beobachtete sie schließlich die Marktfrauen, die anfingen, ihre Waren einzupacken, in Lieferwagen zu verstauen und die Tische zusammenzuklappen. Auch das Café leerte sich allmählich, und die Leute gingen mit ihren vollen Taschen nach Hause.
Der Regionalzug nach Marseille war längst weg, der Anschluss nach Paris nicht mehr zu erreichen. Doch zu ihrer Mutter wollte Bérénice nicht zurück, denn jedes Gespräch würde in Streit ausarten. Sie verließ das Café, überquerte die Place de la Victoire und setzte sich auf eine Bank neben dem abseits gelegenen Boule-Platz. Sie sah den alten Männern zu, die an diesem warmen Herbstabend mit aufgekrempelten Hemdsärmeln ihre Kugeln warfen und dazwischen ein Glas Pastis tranken, von dem sie eine Flasche auf einem wackligen Gartentisch deponiert hatten. Auch das schien sich nie zu verändern. Bérénice erinnerte sich daran, wie sie mit Hippolyte manchmal hier gesessen hatte. Sie musste lächeln, als ihr Hippolytes Worte einfielen: »Wenn ich alt bin, spiele ich hier auch Boule, und du schaust mir zu.«
Ohne nachzudenken, griff sie in ihre Tasche, holte ihr Handy heraus und wählte die Nummer des
Maison Bleue.
*
Es läutete lange, doch Bérénice wartete, bis Hippolyte schließlich ein gereiztes »Hallo« in den Hörer rief.
»Hippolyte? Ich bin es, Bérénice.«
Eine kleine Pause entstand, und seine Stimme klang zurückhaltend, als er antwortete: »Schön, dass du
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