Die Stunde der Schwestern
schreien und zu schluchzen. »Habe ich nicht alles für dich getan, bevor du dich an diesen Weinbauern gehängt hast, einen Versager, ein Nichts, einen Mann, der dich in jener Nacht alleingelassen hat, obwohl er wusste …«
»Sei still!« Jetzt schrie auch Bérénice. »Sei still!«
»Ich bin der einzige Mensch, der dich liebt.« Denise konnte nicht aufhören, sich zu rechtfertigen. »Du hast nur mich, wenn ich sterbe, wirst du allein sein.«
Tief betroffen beobachtete Bérénice ihre Mutter. Zum ersten Mal erkannte sie, dass Denise litt, dass sie seit Jahren gelitten hatte. Aber warum?
»Maman.« Bérénice wurde nachgiebig. »Es tut mir leid, ich wollte nicht, dass du dich so aufregst.«
Doch Denise beruhigte sich nur langsam. Sie lehnte sich an den Holztisch, auf dem die Nähmaschine stand, nahm automatisch die Seidenbluse hoch und legte sie auf das Bügelbrett.
»Wenn du gekommen bist, um mich zu quälen, kannst du gleich wieder gehen.« Denise kniff die Augen zusammen und blinzelte Bérénice feindselig an.
»Gut, dann gehe ich.« Bérénice griff nach ihrer Tasche und ging zur Tür. »Ja, ich denke wirklich, es ist das Beste, wenn ich wieder gehe.
Salut,
Maman.«
Sie wartete an der Tür, doch Denise rührte sich nicht und forderte ihre Tochter nicht zum Bleiben auf. So verließ Bérénice langsam das Haus, blieb aber stehen und beobachtete ihre Mutter durch das Schaufenster. Denise stand unbeweglich an der Nähmaschine und machte keinerlei Anstalten, ihr nachzukommen und sie zurückzuhalten.
So ging Bérénice zur Place de la Victoire. Unentschlossen blieb sie stehen. Sie sollte sich beeilen, wenn sie den Regionalexpress nach Marseille erreichen wollte. Doch dann traf sie eine Entscheidung.
*
Sie war hierhergekommen, um die Lücken ihrer Erinnerung zu schließen. Und es gab noch jemanden, der das ermöglichen konnte, nur einen einzigen Menschen neben Denise. Bérénice zögerte. Der Mut verließ sie, dann aber ging sie entschlossen auf das schmale Haus der Apotheke zu. Heute war Wochenmarkt auf dem Platz, aber Bérénice hatte kein Auge für die üppigen Sonnenblumen und die getrockneten Lavendelsträuße in ihren bunten Töpfen. Kaum nahm sie das Lachen und Feilschen der vielen Leute wahr, die hierherkamen, um einzukaufen, sich zu unterhalten und den neuesten Klatsch zu hören. Bérénice drängelte sich durch die Tische mit frischem Obst, Gemüse und Käse hindurch. Die Terrasse des Cafés La Danseuse war um diese Zeit brechend voll, denn nach dem Einkaufen trafen sich viele Hausfrauen hier und tranken zusammen Kaffee. Bérénice hatte den Markt immer geliebt, und in den Jahren, als sie oben im
Maison Bleue
wohnte, war sie jeden Freitag heruntergeradelt, um hier einzukaufen. Anschließend hatte sie sich mit ihrer Mutter im Café getroffen und kleine überzuckerte Maronentörtchen gegessen.
Bérénice lächelte beim Gedanken an diese Markttage. Sie hatte sich die ganze Woche darauf gefreut. Dann atmete sie tief ein und ging rasch zur Apotheke am Ende des Platzes. Kurz davor verlangsamten sich jedoch ihre Schritte. Seit ihre Mutter sie vor sechsunddreißig Jahren aus dem Apothekerhaus gezerrt hatte, war sie nicht mehr hier gewesen. Noch ein paar Meter, dann stand sie vor dem Gebäude. Sie hatte eine Entscheidung getroffen, und sie wollte sie nicht revidieren. Sie holte tief Luft, bevor sie die Treppe zum Eingang der Apotheke hinunterstieg. Fünf Stufen, vier, drei, dann zwei, jetzt drückte sie vorsichtig die alte Türklinke.
Ding, dang, dong.
Es klang wieder unheimlich, nicht fröhlich wie ein Kinderlied.
Draußen war es noch hell, doch in dem Raum war es dämmrig, ein Geruch nach Moder und Kräutern erfüllte die Luft. Ein alter Mann mit schütterem grauem Haar stand mit dem Rücken zur Tür und sortierte kleine Flaschen in eine Schublade. Als er sich umdrehte, klopfte Bérénice’ Herz so laut, dass sie glaubte, man könne es in der tiefen Stille hören. Der alte Mann war Etienne Aubry, ihr Vater.
»Hallo«, flüsterte sie heiser, blieb aber an der Tür stehen, die langsam hinter ihr zufiel, während die Glocke leise bimmelte.
Als Etienne sie an der Tür stehen sah, entrang sich ein gequälter Aufschrei seiner mageren Brust. »Fleur«, stammelte er, während er sich mit seinen Händen an die Theke klammerte.
»Ich bin nicht Fleur«, sagte Bérénice leise und kam langsam näher. »Ich bin Bérénice, deine Tochter.«
»Ja, ja, ich weiß, natürlich. Ich weiß, entschuldige, ich hatte nur
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