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Die Stunde der Schwestern

Die Stunde der Schwestern

Titel: Die Stunde der Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Maybach
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Schwangerschaft). Nach dieser schrecklichen Tat benahm er sich in der folgenden Zeit jedoch fürsorglich und ließ mir absolute Freiheit, die ich nutzte, um zu meiner Schwester nach Paris zu fahren und mich dort in die Hände eines sehr berühmten, aber teuren Gynäkologen zu begeben; eine ärztliche Betreuung und Überwachung, die in Saint-Emile nicht möglich gewesen wäre. Etienne hatte keine Einwände, vielleicht war er sogar froh, mich nach seiner verbrecherischen Tat nicht um sich zu haben. Auch er wollte natürlich, dass ich nach drei Fehlgeburten dieses Mal das Kind austragen konnte. Immer wieder hatte er ja betont, er wolle ein eigenes Kind, eine Adoption komme für ihn niemals in Frage. Also fuhr ich nach Paris zu meiner Schwester Fleur, und als ich dann mit Dir, meiner Tochter, auf dem Arm nach Saint-Emile zurückkehrte, schien über Jahre nichts mehr unser Glück zu trüben, bis Fleur kam und alles zerstörte.
    Bitte stelle keine Nachforschungen mehr an, und stelle keine Fragen mehr! Lass es gut sein, es ist besser so. Du sollst mich immer liebhaben. Und bin ich Dir nicht eine gute Mutter gewesen? Daran musst Du denken, selbst wenn Dir irgendjemand etwas anderes erzählen sollte.
    Du, meine Kleine, lebe Dein Leben, und werde glücklicher, als ich es letztendlich geworden bin!
    Und verzeih mir, verzeih mir, was ich getan habe! Und stelle keine Fragen mehr! Es ist alles gut.
    In großer Liebe
    Maman
     
    Tief getroffen starrte Bérénice lange auf den Brief. Immer wieder las sie ihn, langsam, Wort für Wort, Zeile für Zeile.
    Im vergangenen Herbst hatte Denise zum ersten Mal über Etiennes Gewalttätigkeit gesprochen. Und jetzt war sogar eine Vergewaltigung daraus geworden, und das, als sie bereits schwanger war? Und trotzdem war sie bei ihm geblieben, sprach sogar von glücklichen Jahren. Bis Fleur kam und alles zerstörte. War sie der Grund gewesen, dass ihre Mutter Etienne verließ und er plötzlich zum »bösen Papa« wurde, den Bérénice nicht mehr sehen durfte? Wieso war ihre Mutter schwanger zu ihrer verhassten Schwester gefahren? Der Schwester, deren Existenz sie ihrer Tochter gegenüber eisern verschwiegen hatte? Kam der Bruch mit Fleur erst später? Als Bérénice im Herbst zu Etienne gegangen war, konnte man sein tiefes Entsetzen spüren. Und auch er hatte einen Namen gestammelt: Fleur.
    Ihre Mutter war seit gestern in der psychiatrischen Abteilung, um einen zweiten Selbstmordversuch zu verhindern, hatte der Arzt erklärt. Aber vielleicht war ihre Mutter ja auch psychisch krank, und Dr. Passot hatte es ihr am Telefon nicht sagen wollen.
    Bérénice las noch einmal den Brief …
Du sollst mich immer liebhaben. Und bin ich Dir nicht eine gute Mutter gewesen?
    Denise hatte den Brief am Freitag abgeschickt. Sie war davon ausgegangen, dass er an dem Tag in Paris ankam, an dem sie sich umbringen wollte. Hatte sie das so geplant? Und war sie so verzweifelt gewesen, dass sie die Anprobe mit ihrer Kundin vergessen hatte? Wieder ging Bérénice den Brief Wort für Wort durch, er barg zu viele Rätsel. Ihre Mutter beschwor sie, ihr eigenes Leben zu leben und die Vergangenheit ruhen zu lassen. Das hatte auch Etienne getan. In diesem Punkt waren sich beide offenbar einig.
    War der Brief eine Rechtfertigung? Ein Vorwurf? Stand dahinter: Ich habe dich geliebt, du jedoch hast mich vereinsamen lassen? Hatte ihre Mutter gar nicht sterben wollen, war der Brief nicht vielmehr der Hilferuf einer einsamen Frau nach Aufmerksamkeit, nach mehr Zuwendung?
    Doch dann fühlte Bérénice eine tiefe Scham angesichts dieses Gedankens. Sie unterstellte ihrer Mutter erpresserische Absichten. Vielleicht war sie wirklich zutiefst verzweifelt gewesen und hatte keinen Sinn mehr im Weiterleben gesehen. Bérénice musste es herausfinden. Alles Grübeln führte ins Leere. Nur ihre Mutter konnte ihr sagen, warum sie sterben wollte. Bérénice musste nach Saint-Emile fahren. Sie würde den Nachtzug nehmen, dann konnte sie schon morgen früh im Krankenhaus sein.
    *
    Saint-Emile
    Der Zug nach Marseille war überfüllt gewesen, und Bérénice hatte die Nacht neben einer alten Frau verbracht, deren Kopf immer wieder an ihre Schulter sank. Im Regionalzug war es eiskalt, und als Bérénice in Saint-Emile ausstieg, war sie übermüdet und durchgefroren. Wie immer in dieser frühen Morgenstunde war der Bahnsteig leer und auch die Rue de la Gare nur mäßig belebt. Hier im Süden herrschte bereits Frühling. Als Bérénice in die Rue

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