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Die Stunde der Schwestern

Die Stunde der Schwestern

Titel: Die Stunde der Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Maybach
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Schwimmbecken. Ihrer Mutter macht das Schwimmen große Freude.«
    »Meine Mutter schwimmt?« Bérénice war fassungslos. »Kann sie das denn mit ihrem steifen Knie?«
    Dr. Passot schien überrascht, als er nachfragte: »Wann hatte Ihre Mutter eine Versteifung im Knie?«
    »Sie hatte einen Unfall, sie ist gestürzt. Aber das war noch vor meiner Geburt.« Plötzlich schoss Bérénice ein unsinniger Gedanke durch den Kopf. »Wir sprechen doch von Denise Aubry?«, fragte sie vorsichtig und lachte nervös auf.
    Dr. Passot lachte verhalten und versicherte Bérénice, dass es sich wirklich um ihre Mutter handle. »Ich denke, Sie können sie dann in ein bis zwei Wochen besuchen, dann wird sie den Widerstand gegen Sie aufgegeben haben.«
    Er verabschiedete sich und legte auf. Bérénice war irritiert. Wieso hatte man im Krankenhaus das steife Knie ihrer Mutter nicht bemerkt? Wieso konnte sie schwimmen?
    Und dann kam Bérénice ein Verdacht: Denise hatte überhaupt kein steifes Knie. All die Jahre hatte sie ihr und allen Leuten ein Gebrechen vorgespielt, das nur in ihrer Phantasie existierte. Oder um Zuneigung und Aufmerksamkeit zu erzwingen.
    Wut ergriff Bérénice. Ohne zu überlegen, war sie hierhergefahren, um ihre Mutter zu besuchen, und jetzt … Sie würde den Mittagszug nach Marseille nehmen, um dort um fünf Uhr den Anschluss nach Paris zu erreichen.
    Auf dem Weg ins Erdgeschoss erinnerte sie sich, wie sehr sie ihre Mutter immer bedauert hatte. »Ich bin in ständiger Behandlung. Manchmal sind die Schmerzen erträglich, und ich kann das Bein normal bewegen, aber immer nur für kurze Zeit.« Hatte ihre Mutter all die Jahre nur simuliert? Wollte sie aus diesem Grund nicht, dass ihre Tochter sie im Krankenhaus besuchte?
    Auf der letzten Treppenstufe warf Bérénice ihre Tasche auf den Boden und ging wieder nach oben. Sie musste sich Gewissheit verschaffen. Jeden Monat ging Denise zu einem Orthopäden, der ihr Knie behandelte und ihr Spritzen gab. Es musste also Unterlagen geben, die bewiesen, dass ihre Mutter nicht gelogen, dass sie die Wahrheit gesagt hatte. Wenn sie nur simulierte, gab es keine Arztrechnungen, Quittungen und Belege.
    Bérénice ahnte, wo sie suchen musste. Im Schlafzimmer hatte sie im Herbst die verstaubten Ordner auf dem Fensterbrett liegen sehen. Sie nahm sich einen nach dem anderen vor und blätterte ihn sorgfältig durch. Sie fand alte Lieferscheine für die Schneiderei, nur in einem Ordner hatte Denise Arztrechnungen der vergangenen Jahre eingeheftet – aber Belege eines Orthopäden oder Rezepte für Massagen existierten nicht. Langsam klappte Bérénice den Ordner zu und legte ihn zurück auf einen der aufgetürmten Stapel. Da löste sich einer der Ordner und fiel auf den Boden. Als Bérénice ihn aufhob, sah sie ein kleines rotes Buch, das mit hinuntergefallen war. Überrascht hob sie das altmodische Poesiealbum auf und öffnete es. Auf der ersten Seite stand in großer, schwungvoller Schrift:
     
    Für meine Schwester Denise, die morgen heiraten wird.
     
    Eingerahmt war der Text von einem Herz aus aufgeklebten gepressten Lavendelblüten. Bérénice atmete tief durch und ließ sich mit dem kleinen Poesiealbum in der Hand auf das Bett ihrer Mutter fallen. Fleur! Endlich, endlich ein Zeichen von ihr, etwas, das ihre Existenz bewies. Staunend blätterte Bérénice weiter. Auf der nächsten Seite hatte Fleur ein Foto eingeklebt und daruntergeschrieben:
     
    5 . Mai 1951
    Maman, Du und ich. Maman wollte ein »offizielles« Bild für ihre Schwester Babette zum Geburtstag, weißt Du noch?
     
    Es war die Aufnahme eines professionellen Fotografen, dessen Name unten auf dem Bild weiß eingedruckt war. In der Mitte thronte auf einem Sessel Joselle in steifer Haltung und mit eingefrorenem Lächeln. Die beiden Mädchen standen rechts und links von ihr. Denise und Fleur hatten eine gewisse Ähnlichkeit, das war nicht zu übersehen. Fleur war mit vierzehn Jahren bereits eine Schönheit, Denise dagegen wirkte wie eine gröbere Ausgabe der zarten Schwester. Beide trugen geblümte Kleider mit einem großen weißen Kragen, aber während Fleurs Haare in üppigen Locken auf die Schulter fielen, rahmten nur dünne, glatte Strähnen das runde Gesicht von Denise ein.
    Das Foto auf der nächsten Seite war vom Dezember 1950 .
    Es zeigte Denise in einem langen Kleid mit einer breiten Schärpe, eine kleine Krone auf dem Kopf. Daneben stand Fleur. Sie war größer als ihre ältere Schwester, sehr dünn und trug

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