Die Stunde der Schwestern
Fleur.
Noch ein Glas, nur schnell, es war schon nach zwölf. Denise wurde schwindlig, aber das war ja gut so. Sie schloss die Augen, atmete schnell und hastig, und ihre Angst wuchs. Die heitere Gelassenheit der vergangenen Stunden war vorbei. Was blieb, war Angst. Aber sie hatte ja keine andere Wahl.
»Jetzt«, entschied sie, »jetzt!«
Der Zeitplan musste stimmen, sie durfte nichts falsch machen. Gleich würde Bérénice anrufen, außer sich vor Verzweiflung und Entsetzen. Und das sollte sie auch sein. Der Gedanke daran tröstete Denise. Schnell das nächste Glas und dann …
Sollte sie auf das Klingeln des Telefons warten? Dann würde sie wissen, dass Bérénice den Brief gelesen hatte. Vielleicht schaffte sie es dann noch, den Hörer abzunehmen.
Das nächste Glas, dann war die Flasche leer. Denise’ Gedanken, verworren und zerrissen durch den Alkohol, umkreisten die Vergangenheit, ihre trostlose Gegenwart und die Zukunft, der sie sich verweigerte. Und ihre Angst wuchs noch einmal. Doch sie musste es tun, sie hatte sich entschieden.
Mit zitternder Hand griff sie nach der kleinen Schachtel, in der sie die Schlaftabletten gesammelt hatte. Sie schluckte eine nach der anderen, hastig und schnell. Nur nicht mehr nachdenken, nur noch ausführen, was seit Monaten ihren Sinn beherrschte!
Immer mehr verwirrten sich die Gedanken, noch eine Tablette, die nächste … Bald hatte sie alle geschluckt, obwohl sie anfing zu würgen. Die Schachtel war leer. Das Herz fing zu flattern an, zu rasen, der Atem ging keuchend, Denise’ Kopf sank auf die Kissen. Die Uhr schlug … wie oft? Einmal nur?
In plötzlicher Panik tastete Denise nach dem Telefon, das auf dem Tisch neben dem Sofa stand. Ich will nicht … Ich will doch nicht … Ich hab es nicht gewollt … nicht gewollt …
Der Hörer entglitt ihrer Hand.
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14
Januar 2002
Paris
Ü ber dem Gare Saint-Lazare wölbte sich der Himmel in einem freudlosen Januargrau. Doch Bérénice gefiel der Ausblick aus den Fenstern von Jean Bergés Loft, das im Obergeschoss eines Hauses direkt gegenüber dem Bahnhof lag.
»Bist du fertig? Ich muss los, mein Flieger geht in drei Stunden.«
»Gleich«, antwortete Bérénice auf Jeans Frage, rührte sich jedoch nicht. Am Freitagnachmittag war sie mit ihm hierhergekommen, und jetzt konnte sie sich nur schwer aus dem Zusammensein lösen. Während sie noch versonnen auf die sonntägliche Straße hinuntersah, hörte sie Jean im hinteren Teil des Lofts die Schiebetüren seines großen Wandschranks öffnen und dabei fluchen, da er irgendetwas nicht fand. Jean fühlte sich wohl in seinem »künstlerisch gestalteten Chaos«. An den weißgekalkten Wänden hingen überdimensional große Schwarzweißfotos, die besten, die er je gemacht und für die er internationale Preise erhalten hatte. Zum Loft gehörte auch eine Küche in teuerstem Hightechstil, doch Jean kochte sich höchstens mal einen Kaffee. Das Zentrum des Lofts bildete ein provisorisches Atelier. Eine Kamera und zwei Scheinwerfer standen hier auf engem Raum beisammen. Auf dem schwarzgestrichenen Boden schlängelten sich Kabel, über die Bérénice schon mehrmals gestolpert war, und an einer Stange hing eine weiße Leinwand von der hohen Decke herunter. Vor den Fenstern stand ein weißer Holztisch mit gedrehten Beinen, an denen die Farbe abblätterte. Ein Tisch mit »Vergangenheit«, wie Jean es nannte. Auf ihm herrschte ein wildes Durcheinander von Fotos. Kaum verborgen hinter einem japanischen Wandschirm, stand auf einem Podest sein Bett, und davor stapelten sich Bildbände über Architektur, Jeans große Leidenschaft.
Bérénice genoss die Beziehung mit ihm. Alles war einfach und unkompliziert. Wenn Jean sich einige Tage nicht meldete, stellte sie keine Fragen, und Jean erzählte auch nichts. Er sagte nicht, dass er sie liebe, sondern dass sie ihm gefiel. Seine Nähe erregte Bérénice, und so stürzte sie sich in die Affäre, um sich jung und lebendig zu fühlen und um zu vergessen.
Doch die Nacht mit Hippolyte, die tiefe Liebe, die Vertrautheit, die sie empfunden hatte, ließ sich nicht aus ihren Gedanken verbannen, sosehr sie es sich auch wünschte. Was blieb, war tiefe Eifersucht auf Marie-Luise, mit der Hippolyte offenbar das Glück erlebte, das Bérénice ihm seit Jahren verweigert hatte.
»Heute Nacht gehöre ich dir«, hatte er gesagt. Eine Reminiszenz an die erste Zeit ihrer Ehe, mehr offenbar nicht.
»Bleib so stehen, dreh dein Gesicht zur Seite, noch ein
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