Die Stunde der Schwestern
sie werde sofort weitergeleitet. Ihr Atem hatte sich vom schnellen Treppensteigen noch nicht beruhigt, und jetzt schlug auch ihr Herz heftig. Hippolyte!, schoss es ihr durch den Kopf. Hatte er einen Unfall? Er fuhr immer zu schnell, wie oft hatte sie ihm schon …
»Madame Mouret? Dr. Passot hier, es geht um Ihre Mutter.« Und so erfuhr Bérénice, dass ihre Mutter, Denise Aubry, am Tag zuvor versucht hatte, sich mit einer Überdosis Tabletten das Leben zu nehmen. Doch eine Kundin, eine Madame Levy, habe sie rechtzeitig gefunden. Denise hatte den Zwölfuhrtermin mit ihr offenbar vergessen, und als Madame Levy die Schneiderei betrat und laut rief, antwortete ihr nur ein Röcheln aus der Wohnung. Madame Levy lief hoch und verständigte dann sofort den Notarzt.
»Ihre Mutter hatte Glück«, sagte Dr. Passot. »Bei den Tabletten handelt es sich zwar nur um ein Medikament zur Beruhigung, ihre Mutter erlitt jedoch einen Schwächeanfall. Aber es geht ihr wieder gut.«
Bérénice’ Bestürzung war so groß, dass sie kaum ein Wort fand, mit dem sie ihr Entsetzen hätte ausdrücken können.
»Ihrer Mutter geht es den Umständen entsprechend gut«, betonte Dr. Passot noch einmal, als Bérénice in Schweigen verharrte. »Sie wird medikamentös behandelt, und wir werden sehen, welche Art der Therapie für sie die richtige ist. Sie liegt auf der psychiatrischen Abteilung und wird überwacht. Das ist Routine, es soll nur ein weiterer Suizidversuch verhindert werden. Sie fühlt sich hier wohl«, fügte Dr. Passot hinzu, »aber sie spricht wenig. Ist irgendetwas passiert, weshalb Ihre Mutter …«
»Nein, nein«, beteuerte Bérénice rasch und horchte angespannt auf die Stimme des Arztes.
»Ihre Mutter ist offenbar sehr einsam. Sie hat uns erzählt, dass Sie zu beschäftigt seien, um sie zu besuchen, auch an Weihnachten hätten Sie nichts von sich hören lassen. Sie macht Ihnen keinen Vorwurf daraus, aber sie ist sehr verletzt durch Ihr Verhalten.«
»Das entspricht nicht ganz der Wahrheit. Sie wollte nicht, dass ich an Weihnachten komme.« Bérénice verteidigte sich und begriff sofort, dass der Arzt dies als Ausrede empfand. Er ging auf ihre Rechtfertigung nicht ein, entschuldigte sich, er habe gleich einen Termin, und bat sie noch, ihre Mutter nicht zu besuchen.
»Vorläufig jedenfalls will Ihre Mutter Sie nicht sehen. Sie soll sich unter keinen Umständen aufregen. Auch keine Anrufe«, warnte er sie.
»Warum nicht?«
»Ihre Mutter fühlt sich durch Sie unter Druck gesetzt, sagt sie. Warum, werden Sie selbst wissen. Aber ich halte Sie auf dem Laufenden«, schlug Dr. Passot vor.
»Sagen Sie meiner Mutter …«, bat Bérénice, doch dann hielt sie inne. Was sollte sie diesem fremden Mann am Telefon schon sagen? »Richten Sie ihr aus, dass ich an sie denke«, beendete sie ihren Satz.
»Das werde ich tun«, sagte Dr. Passot, »versprochen. Wir bleiben in Verbindung.«
Langsam und wie betäubt legte Bérénice den Hörer auf. War sie schuld, dass ihre Mutter nicht mehr leben wollte?
Hätte sie Dr. Passot sagen müssen, dass ihre Mutter schon mehrere Male angedroht hatte, sich umzubringen? Mit tiefer Beschämung erkannte Bérénice, diese Androhungen nie wirklich ernst genommen zu haben. Das Telefon läutete wieder, und Bérénice hob rasch ab. Doch es war nicht Dr. Passot, der noch einmal anrief, sondern Tom Morton. Er sei krank und könne leider nicht kommen. Bérénice war erleichtert, dass die Besprechung ausfiel. Sie blieb einsilbig und konnte Tom kaum zuhören, der ihr die Symptome seines Infekts genau erläuterte. Während er noch sprach, fiel Bérénice’ Blick auf den Brief ihrer Mutter auf dem Tisch. Sie fiel Tom ins Wort, wünschte ihm gute Besserung und legte auf. Mit zitternden Fingern riss sie das Kuvert auf, zog ungeduldig den Brief heraus und las.
Meine Bérénice,
wenn Du diesen Brief bekommst, lebe ich nicht mehr.
Doch Du sollst wissen, wie sehr ich Dich geliebt habe. Als Du das letzte Mal hier warst, bist Du so voller Misstrauen gegen mich gewesen, so voller Abneigung, das hat mir sehr weh getan. Ich wollte nicht, dass Du weitere Fragen stellst, denn ich wollte Dich nicht belasten mit der Vergangenheit. Aber Du sollst wissen, dass der schönste Augenblick in meinem Leben der gewesen ist, als ich mit Dir auf dem Arm aus Paris nach Hause kam.
Schon während der ganzen Schwangerschaft war ich so glücklich gewesen, obwohl Etienne mich geschlagen und vergewaltigt hatte (am Beginn der
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