Die Stunde der Schwestern
Hosen. Auf dem Kopf trug sie ein Samtbarett mit Federn. Darunter hatte Fleur geschrieben:
Das war bei der Theateraufführung der Mädchengruppe unserer Kirche. Du wolltest unbedingt die Prinzessin spielen und hast so lange gebettelt, bis der Pfarrer Dir die Rolle gab.
Du wolltest immer eine Prinzessin sein, das Mädchen, das den reichen Prinzen bekommt. Ich spielte in dieser Aufführung den Prinzen, da ich das größte und dünnste Mädchen war. Es wurde eine schöne Aufführung. Maman war so stolz auf uns beide.
Bérénice blätterte weiter. Endlich erfuhr sie ein paar Details aus der Kindheit von Fleur und Denise. Sie stieß auf ein Foto, das die beiden Mädchen eng umschlungen zeigte.
August 1945
Dieses Foto hat Tante Babette während unserer gemeinsamen Ferien in Avignon gemacht. Siehst Du die berühmte Brücke im Hintergrund?
Nachdenklich blätterte Bérénice weiter und fand wieder eine Seite mit eingeklebten Blütenblättern, dieses Mal waren es Rosen. Darunter zwei Fotos, eines von Fleur, eines von Denise.
In unseren Ferien in Marseille bei Tante Babette. Es tat uns so leid, dass Maman nicht mitkommen konnte, weil sie arbeiten musste. Auf dem Foto stehen wir in dem Park mit den Rosen, von denen wir einige Blüten getrocknet und Maman mitgebracht haben. Einige Blütenblätter habe ich behalten. Jetzt schenke ich sie Dir als Andenken an diese Ferien, an unsere Tante Babette und an eine Zeit, in der wir uns so nahestanden.
Hier, hatte Fleur unter das nächste Foto geschrieben, das die beiden Schwestern mit großen Lavendelsträußen zeigte, hat uns Mamans einzige Freundin Lisette fotografiert. Ich glaube, das war 1950 . Die Mädchen standen neben ihren Fahrrädern und lachten in die Kamera.
Wir waren an diesem Tag in den Lavendelfeldern und brachten die Sträuße zu Maman. Wir schlichen uns leise ins Haus, Maman stand mit dem Rücken zu uns am Bügelbrett, und dann ließen wir die Lavendelzweige auf sie »regnen«. Maman tat so, als erschrecke sie furchtbar, und dann brachen wir alle in Lachen aus. Weißt Du noch, Denise, wir wollten sie glücklich machen. Denn Lisette hatte uns erzählt, wie einsam Maman sei, wie ausgegrenzt sie leben müsse, weil unser Vater sie verlassen hatte. In der Stadt würde immer noch über sie getuschelt. Mir tat Maman so leid.
Doch als wir abends im Bett lagen, hast Du mir etwas Eigenartiges gesagt, dass Du nämlich niemals ein so trostloses Leben wie Maman führen möchtest. Immer nur schuften und nähen, um die Kinder zu ernähren, ertragen müssen, dass man verachtet wird und die Leute tuscheln.
»Ich will einen Mann, der mir ein gutes Leben bietet«, hast Du gesagt, »eine gesellschaftliche Stellung und dass alle Leute mich einladen und mich auf der Straße grüßen.«
Nun, Denise, jetzt heiratest Du Etienne Aubry. Dein Wunsch ist also in Erfüllung gegangen, und ich hoffe so sehr, dass Du glücklich wirst. Ich weiß, wir haben uns in den letzten paar Jahren nicht mehr gut verstanden. Aber warum, Denise, warum? Habe ich was falsch gemacht, habe ich Dich irgendwann einmal verletzt?
Immer wieder las Bérénice diese Zeilen. Lag hier der Schlüssel zu Denise’ Verhalten? Nachdenklich blätterte sie durch die letzten Fotos: Klassenfotos, nach Jahreszahl eingeklebt, jeweils eines von Denise, das andere von Fleur. Dann ein Foto von Joselle. Sie saß in der Wohnung und lächelte ein wenig unsicher in die Kamera. Eine verhärmte Frau mit unordentlichen Haaren und dem Wunsch, auf dem Foto glücklich auszusehen.
Mamans Geburtstag im vergangenen Jahr.
Sie war so glücklich über die Torte, die wir ihr gebacken haben, und sie hat sich über unser Geschenk, den Seidenschal, so gefreut.
Bérénice blätterte weiter. Es gab nur noch ein einziges Foto, das die Mädchen in Shorts und karierten Blusen zeigte. Beide trugen Zöpfe und schirmten ihre Augen mit der Hand gegen die Sonne ab.
Juli 1950
Noch ein Foto, das Mamans Freundin Lisette von uns gemacht hat. Wir sind ganz früh morgens losgeradelt und haben Maman gesagt, wir würden zu den Lavendelfeldern fahren. Doch wir sind weitergeradelt, hinauf in die Berge zur Schlucht. Maman hatte es uns verboten, sie war immer sehr ängstlich. Je höher wir kamen, desto unheimlicher wurde es. Der Wind heulte, und die letzte Strecke mussten wir das Rad schieben. Es ging nur über Felsen, bis wir zur Absperrung kamen. Die Schlucht selbst konnten wir nicht sehen. Es war einsam und kalt dort oben, als
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