Die Stunde der Schwestern
Boursicault einbog, standen in den Vorgärten der hübschen Villen Jasmin und Mandelbäume in voller Blüte. Nur das Haus ihrer Mutter wirkte schäbig und der kleine Garten ungepflegt. Nicht einmal der Frühling gab ihm ein freundlicheres Aussehen.
Bérénice schloss die Tür auf und trat zögernd ein. Abgestandene Luft schlug ihr entgegen. Sie sah sich in der Schneiderei nicht um, sondern stieg zügig die Wendeltreppe hinauf. Im Wohnzimmer herrschte das übliche Chaos, Stoffrollen an den Wänden, alte Modezeitungen auf einem Stuhl und dem Boden. Der Tisch stand jedoch nicht mehr vor dem Sofa, offenbar hatte ihn jemand weggerückt. Eine leere Champagnerflasche, ein umgefallenes Glas, eine abgebrochene Ampulle und die aufgerissene Verpackung lagen darauf. Wahrscheinlich hatte der Notarzt Denise noch rasch eine Spritze gegeben, bevor man sie ins Krankenhaus brachte. Bérénice rückte den Tisch wieder vor das Sofa und stellte das Telefon an seinen Platz. Auf diesem Sofa hatte ihre Mutter versucht, sich das Leben zu nehmen. Was war ihr in diesen Momenten durch den Kopf gegangen, woran hatte sie gedacht? War sie so verzweifelt gewesen, dass sie keinen anderen Ausweg sah als den Tod?
»Wieso, Maman, wieso?«, murmelte Bérénice und fröstelte, als sie die eigene Stimme in dem kalten, stillen Haus hörte.
Wieder befielen sie tiefe Bestürzung, Ratlosigkeit und das Gefühl von Schuld. Sie hatte sich nicht genügend um ihre Mutter gekümmert.
Tick-tock-tick-tock,
klang es aus der Küche. Ein furchtbares Geräusch, sicher hatte Denise es gehört, als sie hier den Champagner austrank, bevor sie die Tabletten nahm. Maman … Bérénice stiegen Tränen in die Augen, als sie sich die trostlose Stunde vorstellte, die Denise hier verbracht haben musste.
Bérénice räumte den Tisch ab und ging in das kleine Badezimmer. Hier hob sie die Stoffrollen aus der Badewanne, zog sich aus und nahm eine heiße Dusche. Eingehüllt in ein großes Handtuch, wollte sie sich in der Küche Kaffee zubereiten, doch die Dose war leer. Auch im Kühlschrank fand sich nichts Essbares mehr. Denise hatte nichts hinterlassen, nicht einmal eine Scheibe Brot. Das sprach dafür, dass sie wirklich hatte sterben wollen.
Während Bérénice weitersuchte, kreisten ihre Gedanken um die Reise ihrer schwangeren Mutter nach Paris. Wieso hatte sie damals keine Angst gehabt? Hatte sie mit der anstrengenden Reise nicht eine weitere Fehlgeburt riskiert? Warum war sie zu ihrer Schwester gefahren, die sie als Egoistin bezeichnete und mit der sie sich offenbar nicht verstand?
Bérénice ging ins Bad zurück und zog sich an. Wieder überlegte sie. Sollte sie die Wohnung durchsuchen? Aber wonach? Was konnte sie finden?
Sie ging ins Schlafzimmer und zog die oberste Schublade der Kommode auf. Hier verwahrte Denise das Familienbuch. Bérénice schlug die Seite mit ihrem Geburtsschein auf, bestätigt von einem Pariser Standesamt mit der Unterschrift eines Beamten, der Chabrol hieß. Unter der Nummer, mit der die Geburt registriert worden war, stand:
Bérénice Marguerite Aubry, am 16 . Mai 1961
Vater: Etienne Olivier Aubry
Mutter: Denise Anne Aubry geb. Déschartes
Es folgte die Urkunde von ihrer Taufe in der Kirche von Saint-Emile am 25 . Mai 1961 . Bérénice kannte das Stammbuch. Bei ihrer Hochzeit hatte sie es für das Standesamt gebraucht. Sie legte das in Leder gebundene Buch wieder zurück und durchwühlte die kleine Schublade, in der sich alte Quittungen befanden, ein rosa Kuvert mit Bérénice’ ersten Locken, ein kleines Spitzentuch und eine Rolle Nähseide, in der eine Nadel steckte, sowie ein Bürstchen für Wollfusseln. Bérénice legte alles zurück und ruckelte ungeduldig, bis sich die Schublade endlich wieder schließen ließ. Was hatte sie erwartet? Sie wusste es nicht.
Eigentlich war sie ja gekommen, um mit ihrer Mutter zu sprechen. Doch als sie jetzt im Krankenhaus anrief und sich mit Dr. Passot verbinden ließ, blockte er ab und blieb konsequent bei seinem Besuchsverbot.
»Ich bin hier in Saint-Emile«, protestierte Bérénice. »Ich will meine Mutter wenigstens kurz sehen.«
Aber der Arzt ging darauf nicht ein. »Ihrer Mutter geht es wirklich gut, sie macht eine Diät, um abzunehmen, und treibt auch ein wenig Sport, eine große Hilfe gegen Depressionen. Dem Krankenhaus angeschlossen ist ein großes Therapiezentrum, in dem den Patienten Massagen, Gymnastik, Yoga und Bewegungstherapie zur Verfügung stehen. Darüber hinaus auch ein
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