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Die Stunde der Schwestern

Die Stunde der Schwestern

Titel: Die Stunde der Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Maybach
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wir an dem hohen Kreuz standen, und so rannten wir mit unseren Rädern wieder den Berg hinunter, fielen hin und kamen mit aufgeschürften Knien erst am späten Abend nach Hause, wo uns Maman erwartete und mit einer schallenden Ohrfeige begrüßte.
     
    So, Denise, leider habe ich keine weiteren Fotos finden können. Mit diesem Album will ich ein paar Erinnerungen zurückholen, die zeigen, wie gut wir uns früher verstanden haben. Vielleicht schaust Du Dir manchmal dieses Buch an und versetzt Dich in unsere schöne gemeinsame Kindheit und Jugend zurück. Ich bin überzeugt, Du kannst dies nicht wirklich vergessen haben.
    Ich hoffe, Dir gefällt dieses kleine Geschenk, denn morgen ist für uns beide ein wichtiger Tag: Du wirst heiraten, und ich gehe fort von hier nach Paris. Wir haben beide bekommen, was wir wollten, und ich wünsche Dir von ganzem Herzen, dass du glücklich wirst.
    Denise, wir stehen am Beginn eines neuen Lebens, lass uns noch einmal anfangen! Lass uns zurückkehren zu der Verbundenheit unserer Kindheit und Jugend, in der wir unzertrennlich waren!
    Ich hoffe es so sehr, sei umarmt, Denise!
    Es liebt Dich für alle Zeiten
    Deine Schwester
    Fleur
     
    Langsam blätterte Bérénice noch einmal das schmale Buch durch, betrachtete lange die wenigen Fotos und las wieder die letzten Zeilen, die Fleur als Abschluss geschrieben hatte. Tränen stiegen Bérénice in die Augen, als sie das Album nachdenklich zuklappte. Warum hatte Denise ihre Schwester so gründlich aus ihrem Leben gestrichen, die ihr so liebevolle Worte geschrieben hatte? Was auch geschehen war, hier bot ihr Fleur eine Versöhnung an, die Denise offenbar ausgeschlagen hatte.
    Lange blieb Bérénice sitzen und drehte das Album in ihren Händen. Dann erhob sie sich. Inzwischen war es Mittag geworden, und der Zug nach Marseille war weg. Sie würde den letzten nehmen müssen, der um sechs Uhr abends ging, mit dem erreichte sie wenigstens noch den Nachtzug.
    Unschlüssig sah sie auf das Album hinunter, bis sie es entschlossen in ihre Tasche schob. Durfte sie das? Aber würde Denise es überhaupt bemerken? Sie schien das Poesiealbum ihrer Schwester im Wust der alten Ordner vergessen zu haben. Als Bérénice bereits an der Tür stand, sah sie sich noch einmal um. Nachdem sie sich entschlossen hatte, alles zu durchsuchen, wollte sie nichts übersehen. So ging sie zum offenen Schrank und wühlte in den Kleidern ihrer Mutter. Es hingen immer mehrere Sachen auf einem Bügel, einige Kleidungsstücke waren nur dazwischengepresst, andere lagen am Boden des Schranks auf den Schuhen.
    Kopfschüttelnd griff Bérénice in das Fach über der Kleiderstange mit den Pullovern und Strickjacken. Als sie sie auseinanderschob, entdeckte sie einen grauen Karton. Neugierig zog sie ihn heraus und stellte ihn aufs Bett. Er enthielt alte Modezeitungen mit Fleur auf dem Cover. Rasch sah Bérénice sie durch, bis sie auf das abgerissene Titelblatt einer Illustrierten stieß. Es zeigte einen damals berühmten Filmstar mit »neuem Begleiter«. Doch eingeblendet war ein kleineres Foto Fleurs mit der Überschrift:
Ist Fleur Déschartes schwanger? Oder trägt sie nur eine Kreation aus Yves Saint-Laurents neuester Kollektion, der A-Linie?
    Fleur schien auf der Flucht vor dem Fotografen, denn sie hielt sich die Hand schützend vors Gesicht. Ihre Figur wirkte unförmig, aber das konnte an dem Mantel in Trapezform liegen. Nichts Ungewöhnliches, wie Bérénice fand. Sie kannte die A-Linie des bekannten Designers, jede Frau sah darin aus, als trüge sie ein Umstandskleid. Direkt hinter Fleur lief eine andere Frau, auch sie hielt sich die Hand vors Gesicht und schien nur versehentlich vor die Kamera des Fotografen gelaufen zu sein. Sie trug ebenfalls einen weiten Mantel, doch der sprang vorne auf und zeigte ein schmalgeschnittenes graues Kleid. Je länger Bérénice auf das Foto starrte, desto sicherer wurde sie: Die Frau im Hintergrund war Denise, ihre Mutter.
    Bérénice’ Herz fing an zu rasen, als ihr Blick auf das Datum der Illustrierten fiel: 10 . Mai 1961 .
    Sechs Tage vor ihrer Geburt.
    *
    Die Terrasse des Cafés La Danseuse war voll besetzt, und Bérénice war froh, noch einen kleinen Tisch ergattert zu haben. Die Sonne schien warm, und die Stimmen und das Lachen der Gäste brachten Bérénice in die Normalität zurück. Doch ihre Nervosität blieb. Sie holte das abgerissene Titelblatt aus ihrer Tasche und betrachtete es. Für sie gab es keinen Zweifel, dass die Frau im

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