Die Stunde der Schwestern
Hintergrund ihre Mutter war. Bérénice trank ihren Kaffee aus und zwang sich zu einem kleinen Bissen von dem warmen Croissant. Sie spürte keinen Hunger.
Die Besitzerin des Lokals, eine ehemalige Ballerina der Oper von Marseille, kam zu ihr an den Tisch und begrüßte sie mit ausgesuchter Freundlichkeit. Sie sprach ihr tiefes Bedauern über das Geschehen aus, bis Bérénice gereizt antwortete, ihre Mutter sei ja nicht tot und alles nur ein bedauerlicher Unfall gewesen.
»Natürlich.« Die Antwort der ehemaligen Tänzerin klang ironisch, und als Bérénice kein Interesse an einer Unterhaltung zeigte, grüßte sie kurz und ging zurück ins Café. Obwohl Bérénice ruhig und verbindlich wirkte, spürte sie den eigenen Herzschlag im ganzen Körper. Sie zog das Titelblatt erneut hervor und sah es lange an. Sie irrte sich nicht, diese Frau im Hintergrund
war
Denise.
Sie musste mit jemandem sprechen. Vielleicht auch nur, um zu hören, das sei alles Unsinn und sie einfach überreizt und nervös.
Bérénice erhob sich rasch und verließ die Terrasse, die neugierigen Blicke der anderen Gäste im Rücken. Sie überquerte die Place de la Victoire in Richtung Boule-Platz. Es war still hier. In dieser Jahreszeit trafen sich die alten Männer in der Weinkneipe zum Kartenspielen. Bérénice setzte sich auf die Bank und nahm noch einmal das Titelblatt der Illustrierten aus der Tasche. Sie war unsicher geworden.
»Es gab kein Kind«, hatte Adrienne Bonnet ihr versichert. »Fleur hat abgetrieben.«
Bérénice musste mit jemandem reden, und sie wusste auch, mit wem. So holte sie ihr Handy aus der Tasche und tippte Hippolytes Nummer ein. Sie musste nicht lange warten, bis er sich meldete.
»Bitte, Hippolyte, können wir uns sehen? Ich bin unten am Boule-Platz. Es ist einiges passiert. Meine Mutter hat versucht, sich das Leben zu nehmen. Außerdem …« Sie sprach nicht weiter, denn im Hintergrund hörte sie Tristan bellen und die Stimme einer Frau, die mit dem Hund sprach.
»Ich komme«, antwortete Hippolyte, ohne zu zögern. »Ich bin gleich da.«
Das Warten fiel Bérénice schwer. Mehrmals stand sie auf und ging ein paar Schritte ungeduldig auf und ab. Dann endlich bremste Hippolytes Pick-up scharf vor der Bank, und er sprang heraus. Rasch lief er um den Wagen herum und kam auf sie zu.
Seit Oktober hatten sie sich nicht gesehen und nicht gesprochen. Aber jetzt war er gekommen, weil sie seine Hilfe brauchte.
»Schön, dass du da bist.«
»Das ist doch selbstverständlich«, antwortete Hippolyte steif. Hatte er Marie-Luise damals erzählt, dass er mit ihr geschlafen hatte? Einen Moment sahen sie sich stumm an, dann nahm er Bérénice leicht am Arm. »Komm, setzen wir uns!«, schlug er vor. »Du hast Glück, dass ich zu Hause war.« Und er erzählte von der Weinmesse in einem der Loire-Schlösser, an der sie teilgenommen hatten. »Vor einer Stunde erst sind wir zurückgekommen.« Da sie nicht antwortete, fragte er: »Also, was ist los?«
»Meine Mutter liegt nach einem Selbstmordversuch auf der psychiatrischen Station im Krankenhaus. Aber ich darf sie nicht besuchen, weil sie mich nicht sehen will.«
»Das musst du akzeptieren«, antwortete Hippolyte ruhig. »Der Arzt weiß sicher, was das Beste für deine Mutter ist. Hat sie Tabletten geschluckt?«
»Ja, aber es waren nur Beruhigungstabletten, die nicht lebensbedrohend sind.«
»Nun«, antwortete Hippolyte vorsichtig, »das hört sich für mich nicht unbedingt so an, als hätte sie sterben wollen, sondern …«
»Ich weiß, was du sagen willst«, unterbrach ihn Bérénice. »Dieser Gedanke ist mir auch schon gekommen.«
»Es würde zu deiner Mutter passen. Hast du dich in den vergangenen Monaten nicht um sie gekümmert? Gab es Streit?«
Bérénice zuckte indifferent mit den Schultern. »Ja«, gab sie zögernd zu.
Hippolyte griff nach ihrer Hand und drückte sie sanft. »Weißt du, Denise hat dich immer erpresst. Wie oft bist du zu ihr gefahren, weil sie angeblich krank war oder irgendein furchtbares Leiden hatte, das sich dann plötzlich in Luft auflöste. Hauptsache, du warst bei ihr. Und ihr Knie …«
»Was meinst du mit dem Knie?«
»Manchmal konnte sie doch ganz normal laufen, dann wieder klagte sie über furchtbare Schmerzen, so dass sie ihr Knie nicht abbiegen konnte und hinkte.«
»Ja, ich weiß«, sagte Bérénice langsam. »Du warst stets misstrauisch – aber warum sollte sie denn simulieren? Ich habe ihr immer geglaubt.«
»Natürlich hast du das.
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