Die Stunde der Schwestern
Du bist ihre Tochter.«
»Du meinst also, sie wollte mich mit ihrem Selbstmordversuch nur erpressen?«
Hippolyte hob die Achseln. »Diese Frage kann ich dir nicht beantworten, aber es wäre eine Möglichkeit.«
Vorsichtig zog er sie an sich, und Bérénice legte den Kopf leicht an seine Schulter. Es fühlte sich so gut an.
Hippolyte sprach weiter: »Sie muss sehr verzweifelt gewesen sein, wenn sie zu diesem Mittel griff. Sie hat viel riskiert, auch wenn es einigermaßen harmlose Tabletten waren.«
Bérénice drückte ihren Kopf fester an seine Schulter und berührte mit ihrem Gesicht fast seine unrasierte Wange. Auch das tat gut.
»Sie ist alt, Bérénice, alt und einsam. Offenbar hat sie panische Angst, dich zu verlieren.«
»An Weihnachten wollte sie mich nicht sehen. Ich glaube, sie hatte einfach Angst vor meinen Fragen, die zu beantworten sie sich weigerte.« Bérénice hob den Kopf und sah Hippolyte an. »Sie hat mir einen Abschiedsbrief geschrieben. Willst du ihn lesen?«
Hippolyte sah sie an, und in ihren Augen las er die Bitte, es zu tun.
»Nein, Bérénice, dieser Brief ist nur für dich bestimmt. Aber du kannst mir sagen, was dich irritiert.«
Bérénice überlegte. Alles, dachte sie, einfach alles. Nichts fügt sich zusammen, nichts ergibt einen Sinn.
Als Hippolytes Handy klingelte, rückte sie ein wenig ab, und der Moment der Nähe war vorbei.
»Ja, ich komme …«
»Es tut mir leid.« Hippolyte steckte das Telefon wieder ein. »Frank ist mit dem Lkw gekommen. Wir müssen ausladen.«
»Ja, natürlich.« Eigentlich wollte sie ihm das Poesiealbum zeigen und darüber sprechen. Auch über die Vergewaltigung Etiennes und das Verhalten von Denise danach, ihre angeblich »glücklichen Jahre« mit ihrem Mann.
Da aber keine Zeit blieb, griff sie rasch nach der Titelseite in ihrer Tasche.
»Mache dir keine Sorgen!«, versuchte Hippolyte sie zu beruhigen. »Im Krankenhaus ist deine Mutter bestens aufgehoben. Du hast dir nichts vorzuwerfen. Du warst immer eine liebevolle Tochter.«
»Vielleicht in deinen Augen. Aber meine Mutter hat mir schon immer das Gefühl vermittelt, dass sie von mir enttäuscht ist, dass ich ihre Erwartungen nicht erfüllte.«
»Wie ich dir schon gesagt habe, du musst dir keine Vorwürfe machen.«
Hippolyte wollte aufstehen, doch da ergriff Bérénice seine Hand. »Es gibt etwas, das meine Mutter verschweigt«, sagte sie, »und das betrifft Fleur. Da bin ich ganz sicher.«
»Zum richtigen Zeitpunkt wirst du es herausfinden.«
Bérénice spürte, dass er wegwollte, deshalb erzählte sie noch hastig: »Als meine Mutter mit mir schwanger war, ist sie nach Paris gefahren. Sie ging das Risiko einer weiteren Fehlgeburt ein.«
»Und?« Hippolyte verstand nicht. »Worauf willst du hinaus?«
»Sie fuhr zu Fleur, ihrer verhassten Schwester. Irgendetwas stimmt da nicht, das spüre ich.«
»Du machst dir zu viele Gedanken. Was ist das?« Hippolyte zeigte auf das Titelblatt, das Bérénice jetzt in der Hand hielt.
»Hier, bitte schau es dir an!«
Hippolyte warf nur einen flüchtigen Blick darauf. »Das ist Brigitte Bardot, als sie jung war.«
»Ja, die Zeitung ist ja auch aus dem Jahr 1961 .« Bérénice wurde ungeduldig. »Aber hier, das eingeblendete Foto, links unten.«
Hippolyte nahm ihr die abgerissene Seite aus der Hand und betrachtete intensiv das kleinere Foto.
»Fleur Déschartes, ist das deine Tante? Sie scheint sehr schön gewesen zu sein, soweit man das erkennen kann. Dieser Mantel sieht ja furchtbar aus!«
Hippolyte sah hoch. In Bérénice’ Gesicht erkannte er ihre Enttäuschung. »Habe ich was Falsches gesagt?«
»Schau dir die Frau im Hintergrund an!«, forderte Bérénice ihn eindringlich auf.
Hippolyte blickte lange auf das kleinere Foto.
»Glaubst du, dass das Denise ist?«, half Bérénice nach.
»Deine Mutter?«
»Ja, meine Mutter. Die Zeitung ist vom 10 . Mai 1961 , und am 16 . Mai kam ich auf die Welt. Aber sieh dir meine Mutter an! Sie sieht schlank aus in dem grauen Kleid und hat keinen Bauch.«
Wieder betrachtete Hippolyte aufmerksam das Foto. »Ich weiß nicht. Wenn man genauer hinsieht, kann man schon einen kleinen Bauch erkennen. Was glaubst du denn?«
»Ach, gar nichts«, antwortete Bérénice einsilbig. Der Verdacht, der ihr beim Anblick des Fotos spontan durch den Kopf geschossen war, schien ihr plötzlich absurd, so absurd, dass sie ihn Hippolyte gegenüber nicht aussprechen wollte. So nahm sie ihm das Titelblatt aus der Hand und
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