Die Stunde der Schwestern
steckte es in ihre große Tasche zurück, nicht ohne seinen verstohlenen Blick auf die Uhr zu registrieren.
»Ich verstehe einfach nicht, warum meine Mutter mir die Existenz von Fleur verschwiegen hat.«
»Ich habe es dir im Herbst schon gesagt, in fast jeder Familie gibt es ein schwarzes Schaf oder böse Auseinandersetzungen, die zum endgültigen Bruch führen. Vielleicht wollte deine Mutter dich mit alldem nicht belasten.«
»Aber dieses Foto. Denise sieht nicht schwanger aus«, beharrte Bérénice.
»Du glaubst also, Denise sei gar nicht schwanger gewesen, ist es das?«
Bérénice nickte. Endlich hatte er verstanden, worauf sie hinauswollte.
»Denise Aubry ist doch auf dem Standesamt als deine Mutter eingetragen?«
»Ja, ja«, antwortete Bérénice. »Ich bin überreizt und sehe hinter allem einen Betrug oder eine Lüge meiner Mutter.«
»Das ist verständlich. Ich kann dir nur den Rat geben, warte ab, bis du sie im Krankenhaus besuchen kannst! Dann sprich mit ihr, vielleicht in Anwesenheit ihres Therapeuten.« Hippolyte erhob sich, dann beugte er sich zu ihr hinunter und strich ihr zärtlich über die Haare. »Du bist in einer schwierigen Situation, ich weiß. Deine Mutter belügt und erpresst dich, aber warum? Sie liebt dich, und sie will von dir geliebt werden. Wie sehr muss ein Mensch sich selbst hassen und wie gering muss sein Selbstwertgefühl sein, um zu solchen Mitteln zu greifen. Versuche, sie zu verstehen, und vor allem mach dir keine Vorwürfe! Du warst und bist eine gute Tochter.«
Noch einmal strich er über ihre Haare, und unwillkürlich hielt Bérénice seine Hand fest und drückte sie gegen ihre Wange. Doch da zog er sie schnell zurück.
»Wie geht es dir eigentlich in Paris?« Es sollte locker klingen, aber als Bérénice zu ihm hochsah, sah sie die Anspannung auf seinem Gesicht.
»Gut, wirklich gut. Die große Show ist in einigen Tagen, und der Job macht mir viel Spaß.«
»Und sonst? Gibt es einen Mann in deinem Leben? Du siehst irgendwie verändert aus.«
Hörte sie Eifersucht in seiner Stimme? »Ja.« Sie zögerte, doch sie wollte ihn nicht anlügen. »Noch nicht lange, erst seit ein paar Wochen. Es ist nur eine Affäre«, fügte sie rasch hinzu.
Warum sagte sie das? War Jean Bergé wirklich nur eine Affäre? Sie hatte bis jetzt kaum darüber nachgedacht.
»Er ist Modefotograf«, sagte sie, da Hippolyte schwieg.
»Nun, wenn er dich glücklich macht, ist es ja in Ordnung«, antwortete er förmlich. »Also, ich bin sehr müde, und es wartet noch eine Menge Arbeit auf mich.«
Beide erhoben sich. Stumm sahen sie sich an.
In Hippolytes Augen erkannte Bérénice einen heftigen Vorwurf, den er nicht aussprach.
»Wir sind getrennt«, erklärte sie schärfer als gewollt. »Ich bin frei, und schließlich hast du auch wieder eine Beziehung.«
»Ja natürlich, ich habe doch gar nichts gesagt.«
»Du hast mich nie angerufen, Hippolyte. Warum?« Das musste endlich heraus.
»Dasselbe kann ich dich fragen.« Seine Antwort kam prompt.
Ich liebe dich so, und ich habe es ja versucht, dachte Bérénice, doch sie sprach es nicht aus. Denn Hippolyte gehörte jetzt zu einer anderen, zu Marie-Luise.
Auch sie, Bérénice, war eine Beziehung eingegangen, aber sie erkannte in diesem Augenblick deren Bedeutungslosigkeit. Es war nur eine Affäre, die man jeden Tag beenden konnte, ohne dass sie Schmerz oder Enttäuschung hinterließ. Nichts, was es wert gewesen wäre, darüber zu sprechen oder deswegen zu leiden. Sie hätte es nicht erwähnen sollen.
So starrten sie sich an, bis Hippolyte Bérénice an sich zog. Er küsste sie nicht, sondern umfasste mit seinen Händen zärtlich ihr Gesicht. Als sie die Augen schloss, spürte sie seinen Mund, der flüchtig ihre Lippen suchte.
»Du musst die Vergangenheit vergessen«, sagte Hippolyte, als er sich von ihr löste.
Bérénice brauchte einen Moment, bis sie begriff. Sie sollten beide die Nacht im vergangenen Herbst vergessen. Das wollte er ihr damit sagen. Bewegungslos blieb sie stehen und sah ihm nach, als er rasch um seinen alten Wagen herumlief und die Tür aufriss.
»Vergessen?«, schrie Bérénice ihm in aufsteigender Wut und tiefer Enttäuschung nach. Diese Nacht, die Verbundenheit, das Vertrauen und die erlebte Leidenschaft sollte sie einfach so vergessen? Als wäre es nie passiert? Als hätte er sich ihr nie geöffnet und ihr seine andere Seite gezeigt, seine Verletzlichkeit, die Qual, die er in all den Jahren durchgemacht hatte? »Denkst du,
Weitere Kostenlose Bücher