Die Stunde der Schwestern
wollte sie wissen.
»Er ist hier, aber nicht allein, sondern in Begleitung.« Adrienne ließ sich jedes Wort auf der Zunge zergehen, während sie Bérénice beobachtete und ihre mit Kajal umrandeten Augen schadenfroh funkelten.
»Ist doch okay.« Bérénice wandte sich ab und schloss sich den Leuten an, die in den zweiten Raum gingen. Adrienne Bonnet hielt Hof, stieß mit jedem mit Champagner an und ließ sich in ihrem auffallenden Kleid bewundern. Sie trug Vintage, ein Kleid von Yves Saint-Laurent aus den frühen Sechzigern, folkloristisch angehaucht mit pink und grünem Muster. Dazu trug sie lange Ohrringe, ebenfalls aus Saint-Laurents Schmuckkollektion der sechziger Jahre.
An der Schwelle zum zweiten Raum hörte Bérénice, dass Adrienne einen Schrei ausstieß, und drehte sich unwillkürlich um. Sie sah noch, wie Adrienne einen großen weißhaarigen Mann umarmte, heftig auf ihn einredete und dann mit dem Kopf zu Bérénice zeigte. Doch die verschwand schnell im zweiten Raum, bevor Adrienne sie einem weiteren Freund als Fleurs Tochter vorstellen konnte.
Sie wollte Jean treffen und sehen, in wessen Begleitung er war. Hatte er eine neue Affäre? Hatte er sich deswegen so lange nicht gemeldet? War es das, was er ihr gestern sagen wollte, ehe sie ihm mit ihrer großen Neuigkeit ins Wort gefallen war?
Im zweiten Raum, der bedeutend leerer war als der erste, hingen Jeans
Pariser Impressionen,
Stimmungen, Gesichter, Menschen auf der Straße, mit seiner Kamera eingefangene Momente. Bérénice lächelte, es waren Fotos aus dem Marais. Das kleine Restaurant an der Ecke, mit seinem Schild
Koscher Pizza,
darunter der kleine runde Tisch mit einem alten Mann, der davor saß und misstrauisch in die Kamera blickte. Jean liebte das alte jüdische Viertel, das hatte er ihr damals gesagt. Aber er hatte ihr nicht verraten, dass er die meisten Bilder dort für seine Ausstellung machte.
»Das ist alles so glatt, so perfekt. Man spürt bei jedem Bild, dass Jean Bergé in der Mode arbeitet. Nur oberflächliche Perfektion, nichts Echtes«, hörte Bérénice einen Mann sagen. Es war Michel Daudet, Redakteur des Kulturteils einer großen Tageszeitung. Bérénice wusste, dass seine Beurteilung für Jean ausschlaggebend war, da dieser in der Fotografie neue Wege gehen wollte. Daudet winkte seine Fotografin zu sich, und zusammen drängelten sie sich zum Ausgang durch, um die Galerie zu verlassen. Sicher eine Enttäuschung für Jean.
Bérénice ging in den ersten Raum zurück. »Das Model vom Plakat«, hörte sie eine Stimme hinter sich tuscheln. »In Wirklichkeit sieht sie aber älter aus.« Sie vermied es, sich umzudrehen, sondern schlüpfte rasch in die leere kleine Küche.
Was machte sie hier überhaupt? Es war ein Fehler gewesen, hierherzukommen, und es war auch ein Fehler gewesen, Fleurs Kleid anzuziehen. Sie stellte ihr Champagnerglas auf den Tisch und warf dabei einen flüchtigen Blick durchs Fenster in den Innenhof. Hier hatte sie mit Adrienne gesessen, bevor sie nach Saint-Emile gefahren war … Hippolyte, immer wieder gingen ihre Gedanken zu ihm zurück.
Im Licht, das aus der Galerie in den Hof fiel, sah Bérénice die verwilderten Flieder- und Hibiskussträucher, die erste Knospen trugen. Adrienne machte sich nicht die Mühe, diesen malerischen Hof zu pflegen. Verdorrte Zweige und trockene Blätter vom vergangenen Herbst lagen zwischen den Beeten und auf der Steinterrasse. Adriennes alte Korbmöbel sahen nach dem strengen Winter noch schäbiger aus als an dem Nachmittag im Herbst. Schon wollte Bérénice sich umdrehen, da erkannte sie in der dunklen Ecke des Hofes ein Paar in enger Umarmung. Und der Mann war Jean Bergé.
Sie atmete tief durch. Das also war es, was Jean mit ihr hatte besprechen wollen. Die Frau in seiner engen Umarmung war nicht zu erkennen, sicher war es das junge chinesische Model.
Bérénice wandte sich vom Fenster ab, lehnte sich gegen die Tischkante und trank ihren Champagner aus. Wie fühlte sie sich jetzt eigentlich? Wieder atmete sie durch, und da wusste sie es: Sie war erleichtert. Sie verspürte kein Bedauern, nichts. Die Affäre war vorbei, und sie war froh darüber.
Entschlossen stellte sie ihr Glas ab und verließ die Küche. Was wollte sie hier überhaupt? Fühlte sie sich besser, wenn sie unter Leute ging, die sie nicht kannte und mit denen sie wenig verband?
Sie war hierhergekommen, um nicht immer an Hippolyte, an Fleur oder Denise denken zu müssen. Auch nicht an die hohen Kosten, die
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