Die Stunde der Schwestern
und bot ihr Schutz, denn Fleur kam mit dem Leben nicht zurecht.«
»Sie wissen, dass ich Fleurs Tochter bin, aber …« Bérénice zögerte. Sie kannte den Inhalt von Fleurs Brief, aber woher wusste Patrice, dass sie seine Tochter war? »Woher wissen Sie, dass ich auch Ihre Tochter bin?«
»Ich weiß es einfach, außerdem hat mir Adrienne Ihr Alter verraten, und ich kann rechnen.«
Jean, natürlich! Er schien Georges Bonnets Witwe alles über sie erzählt zu haben. Wut stieg in Bérénice hoch, wenn sie daran dachte, dass Adrienne Bonnet, eine fremde Frau, so viele persönliche Dinge über sie zu wissen schien.
»Und? Was hat sie Ihnen noch erzählt?«
»Nur, dass Sie bei Ihrer Tante in einer Kleinstadt der Provence aufgewachsen sind. Wurden Sie von ihr adoptiert?«
»So ungefähr.« Bérénice blieb einsilbig.
»Sicher wollte Fleur für Sie das Beste, wünschte sich für ihre Tochter, dass sie in geordneten Verhältnissen aufwuchs.«
Bérénice gab darauf keine Antwort. Genau das fragte sie sich schon die ganze Zeit: Hatte Fleur aus Liebe zu ihr so gehandelt? Aber nach vier Jahren hatte sie ihre Entscheidung wieder bereut. Sie fuhr nach Saint-Emile, um ihr Kind aus der gewohnten Umgebung zu reißen, weg von den Menschen, die es liebte und die es für seine Eltern hielt. Konnte man da von Liebe sprechen?
»Wo lebt Fleur jetzt?« Patrice’ Stimme klang unsicher.
Endlich stellte er die entscheidende Frage, und Bérénice ahnte, dass er Angst vor der Antwort hatte.
»Ich weiß es nicht, ich habe meine Mutter nie kennengelernt«, antwortete Bérénice. »Es gibt so vieles, das ich über sie wissen möchte.« Patrice sah sie erwartungsvoll an, doch sie sprach nicht weiter. Sie fühlte sich krank und müde und hatte keine Kraft mehr, von Denise Aubry zu erzählen oder über die eigenen Gefühle zu reden. Letztendlich war Patrice ein Fremder, und es war nicht einfach, so plötzlich mit ihm über Fleur, ihre Kindheit und ihr Leben zu sprechen. So schwieg sie.
Patrice erzählte noch, dass er in Passy wohne und dass seine Frau ihn nach zwanzig Jahren Ehe verlassen hatte. »Sie lebt jetzt in Amerika, und meine beiden Töchter sind in Boston und Dallas verheiratet.«
War er ein einsamer alter Mann, der den Kontakt zu ihr suchte, zu einer Tochter, von der er bis gestern nicht gewusst hatte, dass es sie gab?
»Und die Klinik?«, fragte sie. »Konnten Sie Ihre beruflichen Vorstellungen verwirklichen?«
Patrice schüttelte den Kopf. »Nein, ich war zu ehrgeizig. Und schließlich konnte ich mich nicht aus dem Mittelmaß herausheben.«
Dann war also alles umsonst, dachte Bérénice, doch sie sprach es nicht aus.
»Glauben Sie mir, ich bereue vieles in meinem Leben. Am meisten jedoch, dass ich Fleur verlassen habe.«
Seine Traurigkeit berührte Bérénice, und so erzählte sie dann doch: »Eines Tages fuhr Fleur nach Saint-Emile, um mich zu holen. Damals war ich vier Jahre alt. Fast vier«, verbesserte sie sich.
»Und?« Gespannt beugte sich Patrice vor.
»Seit diesem Tag ist sie verschwunden.«
»Und?«, wiederholte Patrice. »Hat nie jemand Erkundigungen eingeholt und nach ihr gesucht?«
»Offenbar nicht. Man ging davon aus, sie habe irgendwo in der Welt ein neues Leben angefangen. Ich weiß, es klingt eigenartig«, fuhr Bérénice fort und setzte in Gedanken hinzu: auch für mich. Von dem Gesicht Patrice’ konnte sie ablesen, wie unglaubwürdig er diese Erklärung fand. »Mein Großvater verschwand auch eines Tages spurlos, also schien Fleurs Aufbruch in ein neues Leben niemanden zu überraschen. Man schob es offenbar auf ihre Gene.«
Bérénice spürte, wie schwach diese Erklärung klang. Patrice schüttelte den Kopf und schien über ihre Worte nachzudenken. Da schob sie rasch ihre leere Tasse in die Mitte des Tisches.
»Es tut mir leid, aber ich muss gehen. Ich will noch nach Hause, und dann muss ich zur Generalprobe der Show.«
Patrice drehte sich um und sah auf die Straße hinaus. »Der Regen hat aufgehört, aber wenn Sie möchten, bringe ich Sie heim, mein Angebot steht noch.«
Bérénice stand auf, schüttelte den Kopf und ließ sich von ihm in den Mantel helfen. Sie wartete, bis er Geld auf den Tisch gelegt hatte, und dann verließen sie zusammen das Café.
Draußen blieben sie stehen, doch sie konnten sich nicht voneinander trennen. Bérénice gestand sich ein, dass ihr Patrice gefiel. Sie spürte, wie ihre Ablehnung sich langsam auflöste. Er blieb höflich und distanziert, und sie war
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