Die Stunde der Schwestern
der Brief Hinweise auf das Verschwinden ihrer Tante?
Durfte sie ihn lesen? Der Brief war nicht zugeklebt, also konnte ihn jeder herausnehmen. Langsam faltete sie ihn auseinander, legte ihn vor sich auf den Tisch und glättete ihn behutsam.
Patrice,
nie mehr wollte ich Dich sehen oder auch nur von Dir hören. Doch jetzt schreibe ich Dir, nachdem ich gestern den Artikel mit Deinem Foto im France Soir gelesen habe.
Du hast Dein Ziel erreicht: Dein Schwiegervater hat Dir seine Klinik übergeben. Auf dem Foto legst Du den Arm um die Schultern Deiner Frau, und vor Euch stehen die beiden Töchter, die jüngere ist wohl fünf Jahre alt.
Vor fünf Jahren hast Du mich zur Abtreibung unseres Kindes überreden wollen, jetzt endlich kenne ich den Grund: Du hast Dich für das eheliche Kind entschieden und gegen das Kind, das ich erwartete.
Durch diesen Artikel gestern sind mir Deine Lügen bewusst geworden, auch das Ausmaß meiner Naivität, meines blinden Vertrauens in Dich und in die Beteuerungen Deiner Liebe.
Als Du mir damals die Adresse in die Hand gedrückt und Dich aus meinem Leben geschlichen hast, hast du angenommen, ich würde das Kind abtreiben lassen.
Zuerst hatte ich nur eine elementare tiefe Angst vor diesem Eingriff und den eventuellen gesundheitlichen Folgen. Ich hatte schon zu viele Horrorgeschichten gehört, was andere Mädchen in der Modeszene durchgemacht haben, als sie ein Kind abtreiben ließen. Zuerst war nur diese Angst da, ein Mutterinstinkt stellte sich erst später ein. Vielleicht in dem Moment, als ich meine Schwester nach der Beerdigung unserer Mutter traf.
Da schmiedeten wir einen Plan, zuerst spielerisch, bis Denise, meine Schwester, daranging, ihn konsequent auszuführen. Denise, eine Frau, deren Ehe nach mehreren Fehlgeburten am Ende schien, und ich, voller Angst vor den Konsequenzen einer Abtreibung. Doch dann erkannte ich die Gelegenheit, meinem, unserem Kind, Patrice, die Chance auf sein Leben zu geben. Und darüber war ich glücklich.
Denise ist mit einem wohlhabenden und angesehenen Mann verheiratet, der unbedingt ein Kind wollte – was lag also näher, als ihr mein Baby anzuvertrauen, das ihr Mann dann für sein eigenes halten sollte. Sie versprach mir hoch und heilig, dass ich immer die liebevolle »Tante« sein dürfe, es jederzeit sehen könne und so weiter. Sie versprach mir alles, doch hielt sie in den Jahren danach nichts.
Denise, die vortäuschte, schwanger zu sein, kam damals nach Paris und logierte in einer kleinen Pension in meiner Nähe, ich hielt mich während meiner ganzen Schwangerschaft fast ausschließlich in meiner Wohnung auf. Ginette, die Concierge (Erinnerst Du Dich an sie?), weihten wir ein. Sie besorgte uns einen guten Arzt, den sie aus ihrem Milieu (sie war Prostituierte) kannte und der es mit Personalien nicht so genau nahm. Dafür zahlte ihm Denise eine hohe Geldsumme, fast das ganze Erbe unserer Mutter. Als bei mir die Wehen einsetzten, ließ Ginette ihn kommen. Denise stellte sich ihm als Fleur Déschartes vor und mich als ihre Schwester Denise Aubry, die hochschwanger zu einem Familienbesuch nach Paris gekommen sei. Der Arzt warf einen flüchtigen Blick auf »meinen« Personalausweis (natürlich war es der Ausweis von Denise), den er als Grundlage für folgende Angaben an das zuständige Standesamt benutzte.
Geburt von Bérénice Marguerite Aubry
am 16 . Mai 1961
Zeit der Geburt: 21 Uhr 34 .
Mutter: Denise Aubry geb. Déschartes
Vater: Etienne Aubry
Ort: Paris
Einen kurzen Moment hielt ich mein Kind, unser Kind, Patrice, im Arm. Dann nahm Denise die kleine Bérénice und verließ meine Wohnung. Sie blieb noch drei Tage in Paris und fuhr dann mit »ihrer« Tochter nach Saint-Emile zurück, wo ihr Ehemann »sein« Kind glücklich in die Arme schloss.
Ich jedoch verfiel in tiefste Depressionen. Ich war eine Verlorene in der Stadt Paris, einsam suchte ich das Vergessen im Alkohol, in kurzen, wechselnden Beziehungen. Die Unruhe, die Verzweiflung trieben mich in langen schlaflosen Nächten durch die Bars der Stadt, bis ich einen Deutschen traf, der mir eine berufliche Zukunft versprach. Seit einem Jahr wohne ich in einer Wohnung in der Rue Saint-Honoré. Sie gehört diesem Deutschen, dessen Geliebte ich geworden bin. Er finanzierte mir und meinem alten Freund Maxime Malraux ein eigenes Label: Maxime et Fleur.
Doch dann machte ich einen furchtbaren, nie wiedergutzumachenden Fehler: Ich ließ alles stehen und liegen, um kurz vor der
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