Die Stunde der Schwestern
entscheidenden Show nach Saint-Emile zu fahren. Ich wollte meine Tochter sehen, nachdem Denise alle meine Kontaktversuche abgeblockt hatte. Ich hatte entsetzliche Angst, der Kleinen könnte etwas zugestoßen sein.
In Saint-Emile hielt ich für einen kurzen Moment mein Kind im Arm, es war ein Moment des vollkommenen Glücks, für den ich alles geopfert hatte. Denn als ich nach Paris zurückkam, war durch eine böse Intrige meines besten Freundes meine Zukunft zerstört.
Maxime hatte behauptet, ich sei mit einem neuen Liebhaber, einem schönen jungen Mann, in die Provence gefahren, obwohl er wusste, dass ich zu meiner Familie fuhr. Er machte bei meinem Freund eine Amour fou daraus. Maxime war auch der Einzige, der wusste, dass ich das Kind nicht abgetrieben hatte. Dass meine Schwester in Saint-Emile es als ihr Kind ausgab, hatte ich natürlich nicht preisgegeben. Ich sagte, dass es nach der Geburt adoptiert wurde. Er ist der Meinung, dass ich die Adoptiveltern nicht kenne.
Als ich gestern Dein Foto in der Zeitung sah, begriff ich, dass es sich lohnt zu kämpfen: um die Liebe, um die Familie und um mein Kind. Jahrelang habe ich zugelassen, dass andere Menschen mein Leben bestimmten, das fing mit Georges Bonnet an, ging mit Dir weiter und machte auch nicht halt bei meiner Schwester Denise, die sich bei mir das holte, was ihr zu ihrem guten Leben noch fehlte: ein Kind.
Heute, am 23 . Februar 1965 , fahre ich nach Saint-Emile, um mir meine Tochter Bérénice zurückzuholen.
Manchmal, Patrice, denke ich an unsere kurze Reise in die Normandie. Wir liefen an einem grauen, stürmischen Tag am Meer entlang, und da hast du mich ganz fest in die Arme genommen und mir gesagt, dass du mich lieben wirst, solange du lebst. Patrice, war das alles nur eine Lüge?
Fleur
PS : An der Gare de Lyon werfe ich diesen Brief ein, ich schicke ihn an die Adresse Deiner Klinik.
Bérénice bewegte sich nicht, atmete kaum.
»Fleur«, flüsterte sie unhörbar, »Fleur, was hat man dir bloß angetan, wie hast du gelitten! Fleur, Fleur.« Und dann kam ihr das Wort über die Lippen:
»Maman.«
Langsam legte sie den Brief auf den Tisch. Doch dann nahm sie ihn wieder und las ihn erneut, einmal, zweimal, immer wieder. Tränen strömten ihr übers Gesicht, doch sie spürte es nicht.
Fleur, ihre
Mutter,
hatte diesen Brief nicht abgeschickt, offenbar war sie in Eile gewesen oder hatte einfach vergessen, ihn in die Tasche zu stecken.
Bérénice weinte und schluchzte und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sie sollte nach Saint-Emile ins Krankenhaus zu Denise fahren … Nein, das war nicht gut. Sie konnte Denise nicht gegenübertreten und ihr sagen, dass sie jetzt die Wahrheit kannte, dass ihr Kartenhaus aus Lügen zusammengefallen war.
Und bin ich Dir nicht eine gute Mutter gewesen?,
hatte Denise in ihrem Abschiedsbrief geschrieben.
Bérénice’ Tränen versiegten und ließen sie leer zurück. Als das Telefon klingelte, fuhr sie mit einem Schrei hoch. Jetzt erst bemerkte sie, dass es inzwischen Abend geworden war und sie im Dunkeln saß. Nach langem Läuten hob sie ab. Es war noch einmal Jean.
»Es tut mir leid«, sagte er. »Wir waren offenbar beide schlecht gelaunt, aber ich muss mit dir reden, Darling. Es ist etwas vorgefallen, was uns betrifft …«
Bérénice fühlte sich zu schwach, um sich auf eine Unterhaltung mit Jean einzulassen. »Lass mich in Ruhe«, unterbrach sie ihn, »bitte, lass mich einfach in Ruhe! Ich kann, ich will jetzt nichts hören. Und weißt du, warum?«, flüsterte sie in den Hörer. »Weil … weil ich gerade erfahren habe, dass ich Fleur Déschartes Tochter bin.«
»Woher weißt du das?«
»Ich kann jetzt nicht darüber reden. Wenn es geht, komme ich morgen, okay?«
»Ja, natürlich.«
Bérénice hörte die Irritation in Jeans Stimme, doch sie ging nicht darauf ein, sondern legte den Hörer auf.
Reglos blieb sie auf dem Sofa sitzen, frierend in ihre alte Decke gehüllt.
Plötzlich schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass Fleur gelogen haben könnte, dass sie diesen Brief an Patrice geschrieben hatte, um ihn zu erpressen, vielleicht weil sie Geld brauchte.
Doch dann beschämte der Gedanke Bérénice. Dieser Brief enthielt die Wahrheit. Eine Wahrheit, die nur Denise kannte und der sie sich nicht stellen wollte. Hippolyte hatte bei ihrem Gespräch Denise in Schutz genommen und Verständnis für sie gezeigt. Was aber würde er jetzt sagen, wenn er die Wahrheit erfuhr?
Hippolyte.
Sie musste ihn
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