Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
»Ich dachte, vom Beten wird mir warm …«
Christina zog die ältere Schwester unter ihre Felldecke und rieb ihr die eisigen Arme. Beieinanderliegen und sich gegenseitig wärmen half. Es hatte immer geholfen, wenn sie die Welt da draußen nicht mehr verstand. Jetzt half es, die Erinnerung an den Strand von Edinburgh zurückzuholen. »Er hat dich angeschaut, Magga. Die ganze Zeit hat er dich angeschaut, hast du das denn nicht gemerkt?«
»Wer? Wen meinst du?« Selbst in der Dunkelheit spürte sie, wie Margaret errötete. Christina grinste verstohlen. Natürlich hatte ihre Schwester das gemerkt, sie war ja nicht dumm.
»Er konnte nicht mal reden, hast du so etwas schon mal erlebt? Er hat gestottert wie ein kleiner Junge, dabei ist er ein alter Mann! Ich glaube ja, er ist verliebt in dich …«
»Unsinn! Was redest du da!«, fuhr Margaret hoch. »Er ist kein alter Mann, er ist König …«
»Ach, und Könige verlieben sich nicht?«, neckte Christina sie.
»Dieser nicht! Er ist ein Barbar …«
Christina kicherte über die plötzliche Unlogik. »Ach so. Ein König und ein Barbar. Na ja, zumindest ein gut aussehender. Und Manieren hat er auch. Immerhin hat er dich sehr behutsam auf sein Pferd gehoben, und er hat dir seinen Mantel gegeben. Mein Barbar warf mich einfach in den Sattel …«
»Katalin hat erzählt, dass in der Stadt unzählige englische Sklaven leben – Frauen und Kinder. Ein echter Barbar, ich sag’s dir.« In ihrer Stimme schwang leises Bedauern, das sich auch in der Art verriet, wie sie ihr langes Haar zwirbelte. Das tat sie immer, wenn sie verlegen war.
»Warum die Sklaven?«, fragte Christina und kuschelte sich in die Arme ihrer Schwester. »Wo kommen die her?«
»Katalin sagt, dass er Northumbria mehrfach verwüstet hat, und weil es nicht genug Beute gab, hat er eben … andere Beute genommen. Frauen und Kinder, wie die Barbaren das tun.« Sie schwiegen. Die friedlichen Zeiten der Londoner Klosterschule waren vorüber. Seit Edgar die beiden Schwestern von dort weggeholt hatte, lernten sie, dass das wahre Leben keine Stickmuster in Leinentücher fädelte, sondern sich mit brennenden Nadeln in den Leib der Menschen ritzte. So manchen ließen diese Narben die Menschlichkeit vergessen. Sie verdrängte die Erinnerung an die lange Flucht.
»Weißt du noch – in Ungarn hatten wir auch Sklaven. Die Frau mit den Schlitzaugen in der Küche? Und der dunkelhäutige Mann im Stall? Ich hatte Angst vor ihnen, aber sie taten uns niemals etwas zuleide.«
Christina schloss die Augen. Vor ihrem geistigen Auge stieg die Heimat ihrer Kindheit auf. Die Holzresidenz in den Bergen von Meksnedad, unbeschwerte Jahre mit den Eltern und freundlichen Dienstboten, fröhliche Feste am Hof des ungarischen Königs, Schlittenfahrten mit dem Vater …
»Glaubst du, dass alles anders geworden wäre, wenn Vater nicht gestorben wäre?«
Margaret seufzte. »Ich glaube nicht, Stina. Ich hatte das Vergnügen, an Wilhelms Tafel zu sitzen und ihm zuzuhören, weil Mathilda es wünschte. Wilhelm ist ein Raubtier. Er wurde in der Küchenasche einer Gerberei geboren, er entstammt keiner königlichen Familie. Solche Männer sind sehr gefährlich, weil ihnen das natürliche Benehmen, durch ihre Geburt, nicht gegeben ist.« Christina lief es kalt über die Schultern. Margaret verfügte über eine gute Beobachtungsgabe – wenn sie den König als Raubtier bezeichnete, dann war er sicher auch eins. Obwohl er zu ihnen stets freundlich gewesen war. Sie runzelte die Stirn und schmiegte sich lieber an die zärtliche Erinnerung ihres Vaters – Edward, Sohn des großen Edmund Eisenseite. Feinstes angelsächsisches Königsblut. Ein vornehmer, ruhiger Mann, dem das Schicksal der Vertreibung weder Mut noch Würde genommen hatte. Als Kind war er vor einem Mordkomplott gerettet und nach Ungarn gebracht worden. Niemals hatte sie ein böses Wort über die Vernichter seiner Familie gehört. Der Vater liebte Ungarn und hatte es geschafft, seine Kinder dort in angelsächsischem Geiste zu erziehen, ohne einen Rachegedanken in ihre jungen Herzen zu säen. In ihrer kindlichen Vorstellung war England wie Ungarn gewesen, friedlich, sonnig, gottesfürchtig …
Vor mehr als zehn Jahren war dann dieser angelsächsische Bischof in Meksnedad aufgetaucht, Walcher hatte er geheißen. Und sie erinnerte sich noch an seinen unglaublichen Mundgeruch und an seine langen, schweißigen Finger, mit denen er ihr durch das Haar gefahren war. Als dieser Mann kam, um ihren
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