Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
nach seinem Herz gefingert. Er hatte ihn ihr nehmen wollen, hatte das triumphierend angekündigt und seinen Speer auf die Brust des culdee gerichtet. Sie hatte ihn vertrieben. Sie war so müde. Irgendwo meckerte die Ziege. Der Fahle war fort. Nials Gedanken umfingen sie. Neben ihm ausruhen. Einschlafen …
Claire zog sie weiter, über die Liegenden hinweg, in die entgegengesetzte Ecke des Hauses. Dort packte sie sie am Arm und streifte die schüchterne Freundlichkeit von vorhin ab wie eine alte Haut.
»Hör mir zu. Ich weiß nicht, was du da vorhin gemacht hast. Aber ich will, dass du es noch mal machst. Ich will, dass mein Mann genauso geheilt wird wie deiner. Hörst du? Es geht ihm seit heute Mittag sehr schlecht, und ich will ihn nicht verlieren. Ist mir egal, wenn du Zauberkram mit ihm treibst, ist mir echt egal. Ich verrate dich nicht. Aber mach Godric genauso gesund, Mädchen.«
»Ich weiß nicht … ich kann nicht …«
»John duldet keine Zauberweiber unter seinem Dach, das kann ich dir versichern«, raunte Claire mit drohender Stimme. »Es kostet dich doch nicht viel, nach meinem Mann zu schauen …«
Die beiden Frauen sahen sich an. Christina begriff, was für sie auf dem Spiel stand. Eisiger Wind ließ sie erschaudern und einsam im Gedränge frieren. Sie hatte keine Wahl, die Drohung war überdeutlich. Und so nickte sie nur stumm. Claire grinste triumphierend. Sie nahm sie am Arm und zog sie zur Wand, wo sich ein Mann in feuchten Lumpen wälzte, weil durch ein Loch Wasser an der Lehmwand herabtropfte.
»Es fing heute Morgen an«, flüsterte sie. »Seitdem liegt er so da …«
»Claire, ich bin keine Heilkundige«, versuchte Christina sich zu retten. Hatte sie ihre Angst in diesem Haus bisher noch im Griff gehabt, war es damit nun vorbei, sie hatte sich über Christinas Schwäche zurückgemeldet und lauerte mit den Augen von hundert Dämonen im stickigen Dämmerlicht. Auch hinter dem Mann hockte einer, mit blutigroter Zunge und spitzen Krallen …
»Das is’ mir egal. Du hast die Wahl«, knurrte die Frau.
»Allmächtiger, hast du mich nicht genug gestraft – musst du mir auch noch das Augenlicht nehmen?«, wimmerte der große Mann auf seinem Lager und krümmte sich vor Schmerzen. Christina kniete sich neben ihn. Vor ihr lag einer der Kapuzenmänner, die sie im Wald aufgegriffen hatten. Trotz seiner Krankheit hatte er noch so stark gewirkt, und nun lag er da wie ein Häuflein Elend. Claire strich ihm über die Stirn. Mit der anderen Hand schob sie das Talglicht ein wenig zur Seite. So quälte ihn das grelle Licht nicht, und auch die in narbiges Fleisch eingebetteten Schlitzaugen mit dem furchtbaren Ausdruck verschwanden stumm in den Schatten der Hoffnungslosigkeit. Das Gesicht bekam eine ebenmäßigere Form, weil das Dämmerlicht mit grauen Fingern alle Hässlichkeit glatt strich.
»Letzten Winter hat Gott schon einmal versucht, ihm das Augenlicht zu nehmen«, wisperte Claire. »Er tat Buße. Legte sich nackend in den Schnee, fastete. Ich dachte, er stirbt …«
»Schsch«, machte Christina. Es war, als ob die Augen des Aussätzigen in ihrem Innersten kramten und klopften. Nein, ihr Geist hatte noch nicht zurückgefunden, aber er würde sich erneut öffnen, und vielleicht zu weit … Ihr Herz bebte, und sie machte sich für einen weiteren der Schritte bereit, die sie so unglaublich viel Kraft kosteten …
»Und? Was kannst du tun? Mach schon«, drängte Claire und sah sich verstohlen um. Natürlich hatte sie Angst, dass jemand etwas bemerkte, denn dann wären sie beide verloren.
»Lasst mich alleine«, keuchte Godric. Er wand sich inzwischen auf seinem Lager und presste sich beide Fäuste auf die Augen, als wollten sie ihm aus den Höhlen fallen und könnten nur so daran gehindert werden. Bei jeder heftigen Bewegung entwich seinen Kleidern der Geruch des Todes. Perfide erinnerte er so daran, dass der Mann ohnehin dem Sterben geweiht war und eigentlich längst dem Tod gehörte. Er sandte ihm den Schmerz nur, um ihn vorher noch ein wenig zu erniedrigen und Demut zu fordern. Nackend im Schnee zu liegen und zu fasten bewies noch lange keine Demut.
»Bleib ruhig«, flüsterte sie, »bleib ruhig …«
»Libera me, libera me Domine«, stammelte Godric, »libera me Domine, de morte aeterna … libera me … libera …«
Wie von selbst legten sich ihre Hände auf das entstellte Gesicht, und ihre Daumen berührten mit großer Sanftheit die wulstigen Lippen, die zu Gott flehten und doch nur leere
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