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Die Stunde der Seherin - Historischer Roman

Die Stunde der Seherin - Historischer Roman

Titel: Die Stunde der Seherin - Historischer Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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mit seiner eigenartig geschorenen Tonsur war Nial der schönste Mann, den sie je gesehen hatte. Welch kindischer Gedanke. Sie lächelte in sich hinein. Der schönste Mann, und er liebte sie, das hatte er gesagt. Welch wundervolles Geheimnis!
    »Er wurde verwundet.«
    »Verwundet? Und dann sitzt du hier so rum?«, wunderte sich Claire. »Bist du nicht heilkundig?«
    »Ich …« Christina starrte nun ratlos in das erschöpfte Gesicht. Nein, das war sie nicht …
    »Alle Frauen, die ich kenne, sind heilkundig. Zumindest wissen sie, welche Blätter man auf eine Wunde drückt.« Sie rutschte neugierig näher, um Nial anzuschauen. »Und dieser hier braucht Heilkunst, das seh ich doch …«
    »Ich …« Christinas Entsetzen wuchs. »Im Kloster haben sie uns so etwas nicht beigebracht. Ich kann …«
    »Im Kloster. Ach. Du kannst also Altartücher sticken«, beendete Claire den Satz kopfschüttelnd, doch mit großem Ernst und einer Spur Mitleid. »Wo immer ihr zwei herkommen mögt – ihr braucht nicht nur den Beistand von dem da oben. Ihr braucht richtige Hilfe. Die bekommt ihr von mir.« Damit stand sie auf und verschwand in der stickigen Dunkelheit.
    Christina starrte in die ruhige Glut der Torfstückchen. Nein, mit Blättern hatte sie sich nie befasst, im Kloster hatte es dafür keine Veranlassung gegeben, und für Krankheiten war Mutter Ælfgifu und deren unermessliches Wissen dagewesen. Anders als Margaret hatten Blätter sie nie interessiert … Margaret würde wohl wissen, was zu tun war. Sie hingegen hatte immer nur ihre Hände gehabt. Aber sie scheute sich, sie noch einmal auf den culdee zu legen.
    Es kostete Nial einige Anstrengung, doch er schaffte es, sich ohne Hilfe aus dem Fell und der zerfetzten Kutte zu befreien. Er konnte sich kaum daran erinnern, wann er das letzte Mal solche verdammten Schmerzen gehabt hatte. Als das faserige Leinen über die Brust glitt und die Wundränder aufklappte, entfuhr ihm tatsächlich ein klagender Laut. Die Glut offenbarte schonungslos, dass Máelsnechtai ihn beinahe dem Tod ausgeliefert hätte – der Schnitt seines Schwertes verlief quer über die Brust und war so tief, dass dort, wo das Blut getrocknet war, Knochen hervorschimmerte. Nur ein Zoll tiefer hätte wohl ausgereicht.
    Sie war ein gutes Stück von ihm abgerückt, er sah das Entsetzen in ihrem Gesicht. Sie war ein Kind aus dem Kloster und hatte so etwas noch niemals zuvor gesehen. Keine derartige Verwundung, keine derartig schmutzigen Kleider, keine derartig schmierige Haut, und sein letztes Bad lag auch schon ziemlich lange zurück. Vermutlich hatte sie noch nicht einmal die behaarte Brust eines Mannes gesehen, dem sie das Fleisch nicht zerschnitten hatten, dachte er spöttisch. Der Spott half, die Enttäuschung über ihren entsetzten Blick und das Verlangen nach ihrer Berührung niederzukämpfen. Er war ein verdammter Narr.
    Die Aussätzige rettete ihn.
    Sie brachte nicht nur die Laterne, sondern auch eine Schüssel mit Wasser und einen Korb voll getrockneter Kräuter. Er kannte sich mit dem Zeug nicht aus, das war Frauensache. Claire sah aus, als wüsste sie, welche Blätter sie da aus dem Korb kramte und in einer kleinen Schale mit einem Stein zerstampfte. Dann roch es durchdringend nach Honig. Mit dem Finger angelte sie nach einer guten Portion aus einem Tiegel und verrührte die süße Masse mit den Blätterkrümeln. Schmatzend leckte sie sich den Finger ab und schob sich auf Knien näher an ihn heran.
    »Da hat dich ja jemand böse erwischt«, brummte sie. Er lachte über die Doppeldeutigkeit ihrer Bemerkung, doch sein Blick hing an Christina. Wenn sie ihm doch nur ihre Hand geben würde … Er war so ein Narr.
    »Du hast Glück. Gestern haben sie hier einen rausgetragen – dem hab ich vorher noch schnell die Verbände abgezogen, die braucht er ja nicht mehr. Ich kann …«
    »Nein!«, stieß Christina da hervor. »Nicht den Verband eines Aussätzigen – nicht!«
    »Du stickst Altartücher – ich mach Verbände, Mädchen«, sagte Claire ungerührt. Und dann drückte sie ihm ohne Vorwarnung dicke, honigduftende Breibrocken zwischen die Wundränder. Er bäumte sich auf, als der Schmerz ihn wie ein stumpfer Pflock durchbohrte, und dass sein Kopf dabei gegen die harte Lehmwand prallte, verspürte er kaum. Claire wich seiner Faust gerade noch rechtzeitig aus. Die Breibrocken fielen zu Boden. Wie von Sinnen griff er nach Christina, nicht um sie zu schlagen, nur um sie zu halten – festzuhalten. Doch sie entzog

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