Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
die Hände wärmen. Den Rest müsst ihr halt aneinander wärmen.« Sie lachte albern. »Tut das ruhig. Hier verurteilt euch niemand dafür. John hat das Spital in St. Julian wegen mir verlassen. Ich hab es nicht ausgehalten ohne ihn.«
»Gott segne dich für deine Hilfe«, sagte Christina und rückte ein wenig, damit sie sich zu ihnen setzen konnte.
Nial ließ seine Hand um ihre Hüfte wandern. Sie war zu knochig für ein junges Mädchen und erzählte von entbehrungsreichem Leben und dass sie in den letzten Tagen viel zu wenig gegessen hatte. Er sehnte sich danach, für sie zu sorgen, und bemerkte gleichzeitig beschämt, wonach sich sein Körper so dicht neben ihr noch mehr sehnte. Trotzdem grub er seine Hand tiefer in ihre Kleidung, weil es dort warm war. Verstohlen zog sie sie ganz um sich herum, und sein Herz klopfte wild über dieses stumme Einverständnis. Es gehörte sich nicht, aber verdammt – es fühlte sich gut an. In der Dunkelheit sah es ja niemand. Und Gott schaute weg. Gott war vermutlich überhaupt nicht an diesem von Hoffnung verlassenen Ort.
Die Frau schichtete ihr Torfhäufchen in ein Loch und blies vorsichtig in die Glut. Dann schlurfte sie davon. Der Torf war widerwillig wie immer. Er wollte nicht recht anbrennen, stattdessen gab er so viel Qualm ab, dass Nial zu husten begann. Seine Hand blieb jedoch, wo sie war, und zog Christina mit sanftem Druck noch näher, ohne dass sie sich wehrte …
Kurz darauf plätscherte Flüssigkeit, es roch nach Dünnbier, und zwei Becher standen vor ihnen. Die Frau lächelte schüchtern. »Das zumindest ist ganz frisch, wir haben es vor ein paar Tagen angesetzt. Labt euch daran, ich habe Rosmarin und Steinkraut hineingemischt.«
»Gott segne dich.« Christina entfernte sich von ihm und griff nach dem Becher. »Du … du bist nicht krank?«, fragte sie. Die Frau hatte ein normales Gesicht, war nicht durch Knoten entstellt wie die meisten anderen, deren Fratzen wie Geister im Dämmerlicht an ihr vorübergeschwebt waren.
»Nicht dass ich wüsste. Ich heiß Claire.« Und mit einem scheuen Lächeln deutete sie auf sich. »Sie haben gedacht, dass ich krank bin. Haben mich beobachtet, damals, als John fortgehen musste. Mir jeden Tag ins Gesicht gestarrt. Ob ich auch was bekomme. Pickel, Knoten. Schmerzen. Fieber. Sie haben in meinem Gesicht rumgefummelt, die Haut zusammengedrückt, nach Eiter gesucht. Aber ich hab immer viel gebetet und die Fastentage eingehalten, solange ich denken kann. Mir hat Gott die Geißel nicht geschickt.« Sie breitete die Hände über den Rauch. »Er schickt sie nur denen, die ihre Wollust nicht im Zaum halten können. Das haben sie jedenfalls John im Spital erzählt. Er musste all sein Hab und Gut dem Spital geben.«
Dann zog sie einen Kanten Brot aus ihrem Gürtel. »Hier. Ich hab’s nicht ganz gegessen am Abend. Ich schenk es dir. Es ist noch gut, nur ein bisschen hart. Wenn du es ins Bier tunkst, wird es bald weich.«
Christina tat, wie ihr geheißen, drehte sich zu ihm um und schob ihm fürsorglich ein Stück biergetränktes Brot in den Mund. Ihr Herz machte einen Satz. Ganz flüchtig hatte sie seine Lippen auf ihren nassen Fingern gespürt. Ob der Aussatz ihn wohl dafür strafen würde?
»Dein Freund ist fiebrig – ist er auch aussätzig?«, fragte Claire neugierig. »Pilgern hilft nicht, musst du wissen. John und ich waren in Canterbury, um für seine Heilung zu beten – damals sah sein Gesicht noch nicht so schrecklich aus … Wir sind eine ganze Woche lang jeden Tag auf den Knien um die Kathedrale herumgerutscht, wie sie uns gesagt hatten. Aber Gott hat uns nicht gehört. Keinen hier hat Er erhört, nicht mal Herb, der nach Rom gepilgert ist und auf der Reise sein krankes Weib verlor. Gott ist unversöhnlich, weißt du – wenn man einmal gesündigt hat, vergisst Er das nicht.«
»Er ist nicht aussätzig«, unterbrach Christina den plötzlichen Redefluss. Sie hatten schweigend das Brot zusammen gegessen, und Claire hatte noch einen Rest Suppe für sie beide aus dem Kessel gekratzt. Sie hatten sich den Löffel geteilt und genossen das Gefühl, wenn sich warmes Essen über nagenden Hunger legt. Sie beugte sich nun über Nial, der weggenickt war und tatsächlich Schweißperlen auf der Stirn stehen hatte. Mit einem Zipfel ihres Mantels tupfte sie die Perlen weg, vorsichtig, damit er nicht aufwachte. Seine Stirn schimmerte in der dämmrigen Ecke. Sie ließ den Zipfel fallen und strich sanft über den lockigen Haaransatz. Selbst
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