Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
fasste das Seil. Das weiße Pferd war nirgends zu sehen. Wusste die Stute etwa, dass es seinen Reiter nur verraten würde?
»Ihr wollt ernsthaft auf diesem Gaul reisen? Hlæfdige , nehmt mein Pferd, ich bitte Euch. So ein Gaul steht einer Dame nicht an.« Máelsnechtai wollte sie schon herüberziehen. »Euer Begleiter hat Euch wohl verlassen? Kürzlich war immerhin noch sein Pferd zu sehen. Oder verbirgt er sich gar in dieser Dreckshütte? Sollen wir mal nachschauen?«, lachte er laut.
»Das könnte wohl einen Gedanken wert sein, hlæfweard , und Euer Gemüt ist sicher stärker als das meine, welches den eitrigen Gestank von Aussatz und Pestilenz leider kaum ausgehalten hat.« Noch während sie sprach, sortierte sie die Zügel, während sie mit wild klopfendem Herzen abwartete, ob sie ihn daran hatte hindern können, das Haus zu betreten … »Wie Ihr gesehen habt, konnte ich nur an der Tür sitzen, und Gott hätte mir wohl kaum geholfen, wäre ich weiter nach hinten gestiegen, denn Er hat diesen Ort schon vor langer Zeit verlassen.«
Die Stute schien alles zu kennen – den Grund für ihre Eile, für ihr Herzweh und auch den für ihre vermeintliche Kälte. Sie machte sich klein neben ihr, damit Christina mühelos aufsteigen konnte, und dann groß, damit sie stattlich aussah. Sie hob ihren prächtigen Kopf ins Licht der Laterne, schüttelte ihre Mähne und scharrte schnaubend mit dem Vorderhuf, denn Máelsnechtai war noch nicht ganz überzeugt, dass er das Haus nicht durchsuchen musste. Für Momente verdeckte ihre hochfliegende Mähne den Eingang und tilgte sein Vorhaben, im Haus nachsehen zu gehen. Der Mórmaer trat neben sie, fuhrwerkte an ihren Sitzfellen herum, ließ seine Hand grundlos an ihrem Hintern entlanggleiten, als könnte ihm das verraten, ob sie auch bequem genug saß. Das Pferd schnorchelte leise. Es war bereit.
Ich finde dich . Nials Worte umfingen sie wie eine schützende Rüstung gegen die begehrlichen Blicke seines Bruders. Ich liebe dich .
Rasch blickte sie noch einmal in die Runde. Die Aussätzigen versperrten den Eingang. Ruaidrí war mit dem Sattel beschäftigt, nur der Mórmaer stand gefährlich nahe bei ihr. Nicht gefährlich genug, ließ die kleine Stute sie wissen, nicht gefährlich genug. Und sie warf den Kopf in die Höhe, wieherte schrill und lang gezogen in die Dunkelheit, stieg mit den Vorderbeinen, drehte sich auf der Hinterhand herum – und stob davon, wie sie es schon einmal getan hatte, ohne Christina dabei zu verlieren.
Sie galoppierten durch die Dunkelheit über vor Nässe quatschende Wiesen, einen scharfen Ostwind im Gesicht. Schlamm spritzte auf und blieb schwer in ihren offenen Haaren hängen. Das Stundenbuch hockte stumm auf ihrem Rücken und ließ sich im Rhythmus der Galoppsprünge auf sie niederfallen, weil sie das Bündel in der Eile nicht fest genug geschnallt hatte.
Máelsnechtais lautstarkes Entsetzen verfolgte sie wie die Schreie einer wilden Krähe – und dann hoffte sie nur noch, dass ihre Stute auch dieses Mal wusste, wohin sie ihre Schritte lenkte. Weit weg vom Haus der Aussätzigen und nach Süden. Bis der Mórmaer sie eingeholt und seinen verhassten Bruder endgültig vergessen hatte. Alles war gut so. Sie saß sicher auf der Stute, ließ sich von den gleichmäßigen Wellen ihres Galopps mitnehmen – alles war gut.
» Hlæfdige! In Dreiteufelsnamen – seid Ihr noch am Leben? Ich schneide diesem Gaul die Kehle durch!«, brüllte es nicht lange danach durch den Wind. Das Keuchen eines Pferdes wurde lauter – und die kleine Stute flog nun im rasenden Pass dahin. So leicht ließ sich ein Pferd aus den Bergen nicht einholen! Trotz ihrer bedrohlichen Lage musste Christina über dieses nun wirklich närrische Wettrennen lachen. Máelsnechtai beendete es relativ schnell. Neben ihr hergaloppierend, griff er in den Zügel der Stute, riss ihren Kopf hoch und brachte sie mit äußerster Gewalt zum Stehen.
»Seid Ihr wohlauf, hlæfdige ? Dieses Pferd ist gefährlich, steigt sofort ab, bevor es Euch tötet!«
»Sie hat sich nur erschrocken, hlæfweard . Mir ist nichts passiert. Aber wenn Ihr nun lieber neben mir reiten wollt …« Es war ganz leicht, sich wie eine zarte Dame zu benehmen, um seine Aufmerksamkeit zu halten. Sie staunte, wie gut der raubeinige Schotte dieses höfische Spiel beherrschte, und unter anderen Vorzeichen hätte sie seine Aufmerksamkeiten sogar genießen können. Doch so trachtete sie nur danach, ihn von dem Haus der Aussätzigen
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