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Die Stunde der Seherin - Historischer Roman

Die Stunde der Seherin - Historischer Roman

Titel: Die Stunde der Seherin - Historischer Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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sich ihm, er spürte ihr Entsetzen, ihren Ekel, und die Enttäuschung darüber schwächte ihn nur noch mehr …
    »Nial«, flüsterte sie, und die Welt hielt still. Selbst der Schmerz hielt inne. Aller Atem schwieg. Sie floh gar nicht vor ihm.
    Sie hatte sich auf das Bündel mit dem Gebetbuch gekniet und sah ihn an – erst mit einem Blick voller Hingabe, dann fest und stark, und ihr veränderter Blick schien ihn zu halten wie zwei kräftige Hände. Anders als in der Nacht der Wölfe – ganz anders. Er hatte keine Worte dafür. Sie wuchs, sie breitete sich aus, bebte, er fühlte, wie ihre Kraft ihn durchströmte, über die Schultern, an den Armen, obwohl sie ihn nicht berührte, nicht einmal seine Hände, seine Finger! Und doch schoss dort neues Leben entlang und wanderte die Arme hoch, über die Schultern und hinunter zur Brust. Sie versenkte ihren Blick in den seinen. Er wusste, dass sie flog, dass sie ihn nicht mehr wahrnahm, als sie ihre Finger spreizte und mit der Kraft, die ihnen entfloss, die Wundränder netzte und ihnen befahl, sich zu schließen.
    Der Schmerz verebbte. Wie ein Rinnsal schlängelte er sich aus der Wunde und verschwand, seine Stirn glättete sich, und er seufzte erleichtert auf. Die andere Pein indes vertiefte sich – die Pein der unerfüllten Sehnsucht, die nichts mit Gott zu tun hatte, sondern sehr irdisch und sehr leiblich war … Er war so ein sündiger Narr.
    Der Moment verstrich. Sie hockte nur noch da, hatte die Augen niedergeschlagen und schien in sich hineinzuhorchen. Wusste sie eigentlich, was sie vermochte?
    »Heiliger Peter und Paul«, flüsterte die Frau. Sie räumte hastig ihre Siebensachen zusammen und schien ratlos, was sie als Nächstes tun sollte. Offenbar hatte sie irgendetwas mitbekommen, denn sie wollte verschwinden. Nial zwang sie, die Verbandslumpen aus dem Korb zu ziehen. Sie ließ sich leicht einschüchtern, und er schämte sich dafür, die Frau so zu benutzen – was war nur mit ihm los, er hatte den rechten Weg verlassen, aus blanker Gier nach dieser blonden Angelsächsin! Gott helfe ihm.
    Doch Christina starrte nur auf Claires flinke Hände, verfolgte, wie sie ihm die Verbandsstücke eines Toten auf die Brust legten und festwickelten. Dazu musste er sich vorbeugen, damit sie um ihn herumfassen konnte, so weit, bis sein Kopf fast auf Claires Schulter lag – und er hätte die Schmerzen mit Freuden in Kauf genommen, wenn Christina diese Arbeit übernommen hätte.
    Sie hob den Kopf, strich sich das blonde Haar über die Schulter und nahm Claire wortlos die Lumpen aus der Hand. Wenn sie schon nichts von Blättern verstand, so aber doch von Leintüchern. Und es drängte sie, noch irgendetwas für ihn zu tun, obwohl sie so unglaublich müde war. Dankbar lächelnd nahm er es an, und als alles fest verknotet war, blieb sie verlegen vor ihm knien. Warum gab es keine Unbeschwertheit zwischen ihnen? Warum drückte sich in jedes Lachen die Sehnsucht hinein? Warum konnte sie an nichts anderes als an seine Arme denken? Das war falsch, das konnte so nicht richtig sein. Sie nahm den Becher und reichte ihm das Dünnbier.
    »Es schmeckt scheußlich«, meinte sie.
    Er lächelte wieder, und vielleicht hatte er gespürt, wie sie haderte, denn er brachte sie mit nichts in Verlegenheit, sondern trank einfach von dem Bier.
    »Konntest du das schon immer?«, fragte er nach einer Weile.
    »Ja. Ich glaube schon.« Sie betrachtete ihn. »Verrat mich nicht. Katalin, meine Amme, hat es gewusst. Katalin …«
    »Nein«, sagte er schnell. »Ich verrate dich nicht. Du bist gesegnet, Christina.« Und er lächelte sie so warm an, dass alle Verlegenheit verflog und jener Unbeschwertheit Platz machte, nach der sie sich so gesehnt hatte. Sie teilten sich das Bier und lachten darüber, dass der Becher undicht war und ihnen das Bier an den Händen klebte.
    Claire zog sie schließlich aus der Ecke weg. »Er sollte jetzt schlafen, Mädchen. Ich hab noch einen, der dich braucht, da hinten … ich verrate dich auch nicht.« Sie sah Christina von der Seite an. »Du musst mir helfen. Komm.«
    Verraten? Verwirrt folgte sie der Frau, obwohl sie lieber bei Nial geblieben wäre. Müdigkeit hing wie ein nasser Sack auf ihrem Rücken, versuchte sie zu Boden zu ziehen, doch noch hatte sie dem genug entgegenzusetzen. Sie hatte vorhin den Fahlen vertrieben. Niemand hatte ihn gesehen, aber er war da gewesen, und sie hatte ihn vertreiben können. Die Haare seines Schweifs hatten wie Stacheln in Nials Wunde gesteckt und

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