Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
wusste doch, dass hier ein Boot ist. Spute dich, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!«
Zu zweit befreiten sie eine breite Holzkonstruktion aus seinem Versteck unter Schilf und dicken Tannenästen. Das Floß sah in der Tat aus, als läge es schon länger in diesem Versteck. Christina fand es nicht vertrauenerweckend. Die beiden zerlumpten Männer, die sich nun daran zu schaffen machten, allerdings noch viel weniger. Sie schalt sich selbst für ihren Hochmut und dass äußerste Not die Menschen einfach veränderte. Die Blicke, die sie ihnen zuwarfen, waren nicht gierig, sondern einfach nur hungrig.
Sie befestigten das Ruder, zogen lockere Stricke nach und rückten es so nah ans Ufer, dass es leicht zu besteigen war. Die schwarze Stute weigerte sich. Sie kam aus den Bergen; bisher war sie durch alle Furten bereitwillig gestapft – doch ein Floß zu besteigen kam für sie nicht in Frage! Der Fahle lachte und ärgerte sie mit Seinem Schweif noch ein bisschen mehr. Sie tänzelte hin und her, versuchte zu steigen, als der Mórmaer sie am Zügel auf das Floß ziehen wollte, widersetzte sich und wollte sich schließlich losreißen. Er prügelte sie vorwärts. Mit einem Riesensatz sprang sie auf das Floß und wäre um ein Haar im Wasser gelandet. Die Männer wagten kein Wort zu sagen, obwohl es sie fast ihr Floß gekostet hätte.
Das Floß schaukelte heftig auf den Wellen auf und ab, nicht zuletzt, weil die Stute nicht stillstehen wollte. Prustend und schnaubend warf sie ihren schönen Kopf hin und her, und das Tuch, das sie ihr darumgebunden hatten, flog wie ein düsterer Flügel durch die Luft.
»Herr, haltet das Pferd ruhig!«, schrie der eine Mann, »wir werden noch kentern!«
Doch der Mórmaer hatte alle Hände voll damit zu tun, die beiden anderen Pferde festzuhalten, die sich von der Aufregung der Schwarzen hatten anstecken lassen und zu trampeln begannen. Christina fasste ihr Pferd schließlich am Zügel, obwohl Máelsnechtai ihr das verboten hatte. Sie vergrub die Hand in der dicken Mähne, und gemeinsam konnten sie einander etwas Ruhe schenken. Die Strudel im Fluss verlangten ihre ganze Aufmerksamkeit, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Wie ein Kreisel drehte das Floß sich um die eigene Achse, schwankte, Wasser schwappte über das Holz, durchnässte Kleider und Stiefel und zog sich nur widerwillig wieder zurück, um mit der nächsten Strömung den nächsten Versuch zu wagen, jemanden hinabzuziehen.
»Gleich ist es geschafft! Dort vorne – da ist die Anlegestelle«, rief endlich der Mann am Ruder. »Nehmt euch in Acht! Für das Südufer kann niemand garantieren, da herrscht der Normanne!«
Das Floß stieß gegen einen Stein. Ruaidrí sprang ins Wasser und watete mit dem Seil an Land, welches der Mann ihm zugeworfen hatte. »Bindet es fest, bis die Pferde weg sind«, rief er, »sie werden mir das Floß noch zerstören! Womit soll ich dann fischen gehen? Aber bindet es nicht zu fest, damit ich schnell hier weg kann!« Seine Furcht vor dem strauchbewachsenen, düsteren Südufer des Tyne war offensichtlich. Aufgeregt rannte er hin und her, und selbst Christina wurde darüber beklommen zumute. Nervös nestelte sie am Zaum ihres Pferdes herum, um nicht zu oft zum Ufer hinüberzuschauen, denn auch hier spürte sie die Anwesenheit von Menschen. Vielleicht war alles nicht so schlimm. Flussbewohner vielleicht. Fischer, Ziegenhirten. Harmlose, verarmte Menschen, die die Heerzüge überlebt hatten und genauso froh waren, dass man ihnen kein Leid antat, wie sie selbst … So würde es wohl sein. Sie atmete durch. Selbst das Pfeifen in ihren Ohren ließ nach. Den eisigen Wind ignorierte sie.
Máelsnechtai stieß böse Flüche hervor. Sein Diener stand ja am Ufer und konnte ihm bei den Pferden nicht helfen, die sich seiner Hand widersetzten. Das eine versuchte in seiner Angst vor dem Wasser sogar, ihn zu beißen. Seine Faust traf das Pferd am Kopf, da gab es klein bei und trippelte auf dem Floß hin und her, machte einen immer höheren Buckel und sprang schließlich mit allen vieren zugleich ins Wasser. Der nächste Satz beförderte es an Land, wo Ruaidrí es gerade noch einfangen konnte. Christina hatte ihr Pferd so weit beruhigt, dass sie es ohne Hilfe ins Wasser steigen lassen konnte. Niemand machte Miene, sie an Land zu tragen, und so knotete sie ihre Röcke und die Bruch um die Hüften und steckte die zerlöcherten Schuhe hinter den Sattelgurt. Mit nackten Beinen und Füßen kletterte sie ihrem Pferd hinterher
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