Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
Messbüchern, deren einzige Gesellschaft die schmutzigen Finger des Priesters waren.
Christina klaubte das Buch aus dem Schnee und wickelte es in ihren Mantel. Keinen Moment länger wollte sie das Trugbild anschauen, wo sie doch wusste, wie es sich verwandeln konnte und was es verbarg.
Eine eigenartige Stille umgab sie trotz des Prasselns im Hintergrund, als Nial ihr beim Ankleiden half. Das Hemd verbarg zum Glück, wonach er sich sehnte, trotzdem litt er köstlich verbotene Pein, als sie mit kindlichen Bewegungen die immer noch feuchte Tunika überstreifte und das Fellkleid folgen ließ. Er wollte sie in den Mantel hüllen, doch sie ließ nicht zu, dass er das Bündel auspackte, und so gab er seinen eigenen Mantel her – zum zweiten Mal. Und als sie ihn hochzog und ihre Nase mit einem Seufzer in die Wolle steckte, musste er lachen, und der Bann war endlich gebrochen.
»Du bist immer da«, flüsterte sie glücklich. Darauf wusste er nichts zu sagen. Wie sollte man beschreiben, dass das Herz in der Brust hüpft?
Sie klemmte sich ihr Bündel unter den Arm.
»Wir müssen jetzt weiter, Nial.«
»Wenn du Beth mitnehmen willst, braucht sie noch etwas Ruhe.« Mit zwei Fingern umfasste er ihr Kinn und hob es an, um ihre Züge zu studieren, woher sie ihre Zähigkeit nahm, klein und zart, wie sie gebaut war. »Bis zum Morgengrauen solltet ihr schlafen. Lasst uns schauen, ob wir in der Scheune einen Platz finden.«
Die Frau hatte sich hochgerappelt. Er erinnerte sich an sie – sie war erst vor wenigen Tagen zu den Pilgern am Forth gestoßen und hatte auf merkwürdige Art genossen, dass die Frauen sie fürchteten, weil sie getötet hatte, wie man sich erzählte. Nial hatte sich nicht aufgedrängt, er sah sich nicht als geistigen Beistand dieser Pilger, schließlich hatte er genauso Sünde auf sich geladen wie sie alle. Doch Unbehagen hatte auch er vor ihrem grimmigen Ausdruck empfunden und daher ihre Nähe nicht gesucht. Umso mehr erstaunte es ihn, sie an Christinas Seite vorzufinden.
»Gut so, Mönch«, sagte sie. »Alle Eile nutzt nichts, wenn man darüber kaputtgeht, hat meine Mutter immer gesagt. Schlafen muss die Dame, sonst ist sie tot, bevor sie ihr Kloster erreicht. Ich weiß nicht, wie es Euch ergeht – aber ich sehe heute Nacht sowieso nichts, da kann ich genauso gut ausruhen.« Und sie setzte sich in Bewegung; marschierte vielleicht ein wenig schwankend und unsicher, aber entschlossen auf die Scheune zu, um Christina mit gutem Beispiel voranzugehen.
Sie keuchte vernehmlich. Ob sie die nächsten Berge hochkommen würde? Ihr Weg war noch so weit … Christina beeilte sich beschämt, sie einzuholen. Ihre Kraft hatte nicht ausgereicht, Beth mehr davon abzugeben, und auch dafür schämte sie sich. Das Einzige, was sie noch tun konnte, war, nun ihre eigene Ungeduld im Zaum zu halten und Rücksicht auf die Mörderin zu nehmen, so schwer ihr das auch fiel. Und Beth hatte ja vollkommen recht – in der Dunkelheit würden sie sich ohnehin verirren und kostbare Zeit verlieren.
Vorsichtig öffnete Nial die Tür der niedrigen Scheune. Drinnen war es natürlich stockfinster. Christina schärfte ihre Sinne. Es roch auch hier nach Tieren – und nach Heu. Nach den Ereignissen dieser Nacht fürchtete Beth sich vermutlich nicht einmal mehr vor dem Teufel selber – sie schob sich, ohne zu zögern, an den beiden vorbei, schlurfte über den gefrorenen Boden, und dann hörte man sie wohlig seufzend ins Heu sinken. »Hier sollte uns niemand stören, hlæfdige «, kam es leise. »Hier können wir ausruhen …« Keinen Moment später drang leises Schnarchen aus ihrer Richtung.
»Hier sind Pferde!« Eins davon schnaubte warnend, vielleicht weil der Brandgeruch in die Scheune drang. Christina drückte sich an dem Mönch vorbei in das Dunkel. Es roch gut hier – es roch sicher. Und vielleicht waren es sogar Reitpferde! In Gedanken sah sie sich schon über die Hügel nach Süden preschen – wie in den glücklichen Kindertagen, damals im heimatlichen Meksnedad, als sie zusammen mit Margaret und einem Pferdeburschen über duftende Thymianfelder und an glitzernden Bachläufen entlanggaloppiert war, pfeilschnellen Füchsen hinterher, und dann mit erhitzten Wangen und wirrem Haar dem Vater glücklich in die Arme gefallen … Sie schluckte die Erinnerung rasch hinunter, bevor ihr die Tränen das Denken verschleierten. Weg mit der Vergangenheit – diese Pferde würden helfen, ihr Ziel schneller zu erreichen, weiter
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