Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
nichts.
»Christina.« Seine warme Stimme erreichte sie gerade noch rechtzeitig. Hastig wischte sie sich die Tränen ab. »Christina, ich werde für euch wachen, damit keine Funken auf den Stall überspringen. Leg du dich auch hin und schlaf. Schlaft beide, so tief ihr könnt.« Er verließ die Tür und kam zu ihr ins Dunkel. Ihr schwoll das Herz. Niemand würde es sehen, niemand würde es bemerken, nicht einmal Gott würde in dieser nächtlichen Scheune sehen, wenn er sie küsste – nur einmal so wie vorhin, wo sie sich fast aufgelöst hatte vor Glück.
Er stand dicht vor ihr. Feine Fäden spannen sich zwischen ihnen, zogen sich immer enger, fast berührte er sie mit seiner Brust, und ihr Sehnen wurde unerträglich. Doch er fasste sie nicht mehr an. Sein Atem indes verriet ihn.
»Wie hast du mich gefunden?«, fragte sie leise, um sich selbst zu überlisten. »Wir haben keine Spuren hinterlassen.«
»Das habt ihr wirklich nicht.« Er schien erleichtert, dass sie diesen Weg wählte, statt ihn weiter anzustarren. »Niemand hat euch gesehen – aber wenn ich euch gefunden habe, wird Máelsnechtai das auch können.«
»Er ist dein Bruder«, unterbrach sie ihn.
»Ja«, sagte er ruhig, und es schien nichts Schlimmes dabei zu sein.
»Er wollte dich töten«, versuchte sie es weiter.
»Ja«, sagte er wieder, und seine schöne Männerstimme klang in der Scheune nach. Eine Erklärung aber bot er nicht. Er würde sie an dieser Geschichte nicht teilhaben lassen, das spürte sie.
»Hat er dich verletzt?«, fragte sie.
Da lächelte er sie an, in einer Mischung aus zärtlicher Nachsicht und Wehmut. »Wir … wir haben uns gegenseitig verletzt.« Sie erschrak, schwieg aber. »Gegenseitig. Vor langer Zeit schon. Eine Fehde endet mit dem Tod eines Kontrahenten.« Er tauchte in ihre Augen, wusch sich in den Tränen, die sie um ihn geweint hatte. »Ich habe nicht vor, die Fehde jetzt enden zu lassen. Und nicht deinetwegen.«
Sie war nicht sicher, ob sie ihn richtig verstand. Der Schnee hatte ihr einen anderen Mann gebracht, hatte den culdee am Ufer des Forth zurückgelassen und einen Krieger zu ihrem Schutz gesandt. Vielleicht war das die Antwort: Obwohl Máelsnechtai ihm so offen nach dem Leben getrachtet hatte, würde er die Fehde ruhen lassen, damit sie – Christina – ihr Ziel erreichte. Sie war tief in diese Brudersache verstrickt, doch er würde keine Entscheidung herbeiführen – um ihretwillen.
Langsam zog er sich auch den Wollschal von den Schultern. Stoff rieb über Stoff, raschelte leise und verheißungsvoll. Sein Geruch umwehte ihre Nase. Ein Schritt auf knirschendem Eis. Dann war er an ihr vorbeigegangen, und sie hörte, wie er das Heu mit seinem Schal polsterte. »Leg dich hin, Christina«, flüsterte er, als wäre auch ihm klar, dass eine laute Stimme den Zauber zerstören würde, der sich wie ein Traum aus Silberfäden zwischen ihnen gewoben hatte und gegen den er machtlos war. Widerstrebend legte sie sich auf das bereitete Lager, sah ihm nach, wie er mit langsamen Schritten die Scheune verließ, ein Schutzengel mit brechendem oder längst gebrochenem Herzen.
Unruhe irrte durch ihre Glieder. Da war noch etwas … neben Nial. Es hatte auch nichts mit Berwin oder dessen grässlichem Tod zu tun. Etwas anderes nahm ihr die Ruhe – etwas Größeres. Durch das Tor fiel kegelförmig der Lichtschein des Feuers in die Scheune und ließ den Grund für ihre Unruhe böse funkeln: Das Stundenbuch blähte sich auf, vielleicht um ihr Angst zu machen und seine Macht über sie zu demonstrieren. Oder würde es sich öffnen und seinen unheilvollen Inhalt ein weiteres Mal preisgeben?
Doch der Unheilsbote brauchte keine Buchdeckel, um zwischen den Welten von Tod und Verderben zu künden. Macht wurde uns gegeben …, hallte es mit dem Wind durch die Scheune. Erschrocken fuhr sie von ihrem Lager hoch.Wie eine neunschwänzige Katze peitschte der Schweif des fahlen Pferdes durch die Scheune. Was er mit seinen stählernen Spitzen traf, erstarrte unter eisig glitzerndem, grauem Reif. Christina duckte sich ins Heu. Hufe blitzten auf, hinterließen tiefe Spuren im gefrorenen Boden. Verzehrend weiß zog sein Atem an ihr vorüber – würde Er sie treffen, würde Er sie töten …
Nial musste ihren verzweifelten Laut gehört haben, denn er betrat just in diesem Moment die Scheune, sein Pferd am Zügel hinter sich herziehend. »Christina?« Der Schimmel schnaubte, warf den Kopf unwillig herum, dann stieg er und ließ seine
Weitere Kostenlose Bücher