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Die Stunde der Seherin - Historischer Roman

Die Stunde der Seherin - Historischer Roman

Titel: Die Stunde der Seherin - Historischer Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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Vorderhufe sprechen. Nial konnte gerade noch zur Seite springen und das Pferd herumreißen. Gleichwohl schlitzte der rechte Huf mit Wucht die Schulter des Fahlen auf, und der Gestank von schwarzem Blut verpestete die Luft. Mit weit aufgerissenen Augen kauerte sie zitternd im Heu, sah, wie Nial sein aufgebrachtes Pferd beruhigte und dabei nichts roch, nichts von allem bemerkte … Der grässliche Schrei des Fahlen verhallte irgendwo unter dem Scheunendach, sein Gestank blieb allein für ihre Nase zurück …
    Sie konnte ihm auch nichts davon erzählen, als er zurückkam, um nach dem Grund für ihren Schrei zu forschen. Vermutlich schob er es auf die Ereignisse der Nacht, küsste sie zärtlich auf die Wange und ließ sie im Heu zurück.
    »Ich wach über dich. Hab keine Angst …«
    Und Nial begann zu singen. Leise durchdrang seine tiefe, melodische Männerstimme die Dunkelheit der Scheune, drang durch Gestank und Angst und Einsamkeit zu ihr und legte sich wie Samt über ihr aufgewühltes Gemüt …
    »Dominus illuminatio mea et salus mea; quem timebo? Dominus protector vitae meae; a quo trepidabo? Dum appropiant super me nocentes, ut edant carnes meas; qui tribulant me et inimici mei, ipsi infirmati sunt et ceciderunt.«
    Die auf Klang gebetteten Psalmworte halfen nicht allein durch ihre heilige Bedeutung, sondern auch, weil der Schmelz in seiner Stimme verriet, dass er nur für sie sang. »Unum petii a Domino, hoc requiram: ut inhabitem in domo Domini omnibus diebus vitae meae, ut videam voluptatem Domini et visitem templum eius.«
    Das Scheunentor stand weit offen. Sie konnte das Feuer immer noch hoch in den Nachthimmel brennen sehen – hinter dem Schatten von Nial, der mit seinem weißen Pferd den Eingang versperrte, damit niemand die Scheune betrat und ihren Schlaf störte. Er hatte aufgehört zu singen, doch leises Summen erfüllte die Luft. Wie ein Speer ragte sein Bogen in den Himmel, und der Wind kam in die Scheune gucken und spielte verliebt mit den weißen Schweifhaaren des Pferdes.

NEUNTES KAPITEL
    Man stößt mich, dass ich fallen soll;
    aber der HERR hilft mir.
    Der HERR ist meine Macht
    und mein Psalm und ist mein Heil.
    (Psalm 118,13-14)
    D as Biest ist verrückt. Niemals setze ich mich auf so ein Ungeheuer, hlæfdige .«
    Beths Gesicht war immer noch grau und eingefallen, aber sie hatte schon wieder genug Kraft, um sich gegen Christinas Plan zu wehren, Berwins vom Feuer verschonte Pferde zu besteigen, um rascher voranzukommen. Selbst die Morgendämmerung rümpfte über diese Gäule ihre Nase und zog sich kopfschüttelnd eine Wolke vors Gesicht.
    »Mein Mann hatte so ein Vieh, und das sah ganz anders aus. Dieses hier ist vom Teufel, glaubt mir, ich sehe so etwas. Es wird uns umbringen. Außerdem ist es sicher blind.« Zur Bekräftigung wich sie einen Schritt zurück und streckte abwehrend die Hände aus. Christina hob die Laterne und schaute sich genauer an, was sie da vorhin aus dem Stall gezogen hatten.
    Lange Zottelhaare hingen den Tieren von den mageren Leibern, die Mähne des einen Pferdes reichte bis fast auf den Boden und sein Schopf noch über die Nase – es war sicher blind. Blinde Pferde konnte man nicht reiten, da musste Christina ihr recht geben. Die pechschwarze Mähne war mit Heu und Kletten verfilzt. Das Tier warf den Kopf zur Seite, als sie nach ihm greifen wollte. Durch das Schopfhaar blitzten sie schwarze, ärgerliche Augen an. Die Nüstern weiteten sich, dann roch das Pferd kurz an ihrer Hand und schnaubte leise.
    Dieses Tier war weder blind noch dumm und schon gar keine Kreatur des Teufels. Christina wusste instinktiv, dass sie der Stute ihr Leben würde anvertrauen können.
    »Sie sind zahm, sie werden euch schon tragen«, meinte auch Nial, der mit Zaumzeug aus der Scheune kam. »Der Mórmaer wird keine Zeit verlieren.«
    »Er ist hinter mir her«, unterbrach sie ihn.
    »Er ist hinter dir her«, nickte er, und sein Blick wurde ganz still. »Ich kann ihn nur aufhalten, Christina.« All seine Sehnsucht lag in diesem Satz und auch die Hoffnungslosigkeit darüber, dass es keine Zukunft gab für einen Mönch und eine angelsächsische Prinzessin, deren Schwester gerade Königin geworden war. Ihre Hände berührten sich, als sie ihm einen Zaum abnahm.
    »Halt ihn für mich auf, Nial«, flüsterte sie. Und wünschte sich sehnlichst, in diesen Satz ein Versprechen legen zu können – aber welches? Das Pferd nahm ihr jeden weiteren Gedanken ab, es versuchte nämlich zu entkommen, weg von

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