Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
dem Brandplatz, der, nachdem das Feuer heruntergebrannt war, vor allem noch knackte und unheilvoll glomm. Christina konnte die Stute gerade noch einfangen und beeilte sich, ihr den Zaum über die Ohren zu ziehen, bevor sie sich auf ihren Rücken schwang. Auch Nial verlor keine Zeit. Er reichte ihr noch ein Fell, das sie in der Scheune gefunden hatten, und verließ sie mit einem langen, weichen Blick, den sie in ihrem Gedächtnis bewahrte wie eine kostbare Perle, die zu schade war, um sie von goldenem Draht umgreifen zu lassen. Man behielt sie im Schatzkästchen der Erinnerungen, einzig um sich an ihrer Schönheit zu weiden …
»Reitet vorwärts und lasst euch durch nichts stören.« Nial half Beth beim Zäumen und zog den Gurt, der das Sitzfell halten sollte, ordentlich fest. »Gott sei mit euch. So der Allmächtige es will, werden wir uns wiedersehen. Ich werde zurückreiten und Máelsnechtai suchen. Ich will alles tun, damit er euch nicht findet.« Er vermied es, Christina anzuschauen.
Am Fuß des Hügels drehte sie sich noch einmal um. Berwins Haus hatte sich in einen schimmernden Gluthaufen verwandelt. Wie Irrlichter flogen die Funken herum, hielten nach neuer Nahrung Ausschau. Vielleicht würde auch die Scheune noch in Flammen aufgehen. Sie schüttelte den Kopf. Die Scheune lag hinter ihr. Sie rückte den Leinensack zurecht, den Beth ihr kunstvoll auf den Rücken gebunden hatte, damit das Buch beim Reiten nicht störte. Und erlaubte sich – ganz kurz nur –, daran zu denken, wie sein Mund beim Abschied ihre Lippen verbrannt hatte, als er sie gegen alle Vorsätze dann doch noch einmal vom Pferd gezogen, kurz und heftig an sich gerissen und umarmt hatte. Dann beugte sie sich vor, bis ihre Nase die zerzauste Mähne berührte, und drückte die Beine ans Pferd. Die Stute zögerte keinen Moment. Sie preschte los und nahm den Hügel in Angriff, als wäre er ein Gegner, den es zu überwältigen galt, noch bevor die Morgensonne ihn überwunden hatte.
» Hlæfdige! Wartet auf mich! Dieses Tier … dieser Teufel will mich loswerden! Ihr werdet uns alle ins Grab bringen …«
Beths Lamento begleitete sie den ganzen Berg hinauf, über den Gipfel und die verschneite Ebene hinein in den Wald, wo die aufziehende Morgensonne sie zwischen den Baumwipfeln suchte und doch nicht fand. Schenkte man Beth Glauben, saß sie auf einer Ausgeburt der Hölle, deren einziger Plan es war, ihren Tod zu verursachen, und zwar durch bockende Galoppsprünge, als ihr der Pass mit einer wackelnden Last im Rücken zu lästig wurde.
Doch auch wenn die beiden Pferde alles andere als freundliche Reittiere waren, so erleichterten sie die Reise doch ungemein. Berge verloren ihren Schrecken, denn die Pferde fanden instinktiv den einfachsten Weg hinauf, und selbst Menschen zu begegnen konnte Christina entspannt hinnehmen, statt sich wie bisher ängstlich zu verbergen. Als Reiter war man schnell an allem vorbeigeprescht, was einem nicht geheuer schien. Am Ende des zweiten Tages fühlte sie sich fast wie eine Königin und zweifelte trotz Beths endloser Jammerei nicht mehr daran, das Kloster im Süden wohlbehalten zu erreichen. Vielleicht auch, weil sie Nials schützende Gegenwart in ihrem Rücken spürte, obwohl er gar nicht bei ihnen war.
»Wir sind nun quitt, hlæfdige «, seufzte die Frau, als Christina ihr erlaubte, vom Pferderücken herunterzurutschen. »Gestern habt Ihr mir mit Eurer Heulerei den Verstand geraubt – heute war ich dran.« Und das hilflose Grinsen, mit dem sie ihre wund gerittene Kehrseite untersuchte, entschädigte Christina.
»Wenn du mir deine Hundesalbe gibst, will ich dir wohl den Hintern damit salben.«
»Meinen Hintern! Oh, das kann ich Euch wohl zeigen«, lachte Beth, »und ich hab ja noch mehr Salben in meinem Beutel. Was glaubt Ihr, was wir mit dem Pelzkrämer alles hätten anstellen können, hlæfdige , wenn er nur lange genug gelebt hätte …« Ihre Handbewegungen ließen keinen Zweifel darüber, dass der Maure ihr noch ganz andere Dinge beigebracht hatte. Die Skrupellosigkeit, mit der sie über Berwins Tod hinwegging, war entsetzlich. Errötend vor Scham über ihre Begleiterin wandte Christina sich ab. Vielleicht würde Beth doch nach Jerusalem pilgern müssen, um all die Sünden von ihrer Seele zu waschen. Doch diesen Gedanken behielt sie wohlweislich für sich. Erst einmal galt es, in der Hütte unter den Birken ein Nachtlager zu finden, ohne sich in Lebensgefahr zu begeben. Die Erfahrung der letzten Nacht
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