Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
und wild schnaubend den Feind am Boden taxierte, um ihn zu zertrampeln – mit einem Schritt war er bei ihr, warf sich über sie und riss sie mit seinem Körper aus der Gefahr. Die Hufe seines Pferdes erreichten den Boden, just an jener Stelle, wo Christina bewegungslos gekauert hatte. Schier endlos blieb sein Wiehern am Nachthimmel kleben.
All seine Gebete waren erhört worden. Das Gebet um Schnelligkeit, um die richtige Richtung und um Gottes Arm, der ihn vor Máelsnechtai bewahren würde. Ihm war klar, dass der Bruder ihn verfolgen würde – die Stallburschen würden schon dafür sorgen, dass er erfuhr, wie Nial unterwegs war, der neuerliche Bruderzwist bot Stoff für Geschichten. Es würde ein Wettrennen gegen den Mórmaer werden, doch Gott hatte ihn noch nicht aufgegeben, denn auch das Gebet um Christina war erhört worden – er hatte ihre Spuren im Schnee gesehen – hatte sie gefunden.
Nial rappelte sich auf. » Anima mea «, flüsterte er stammelnd, » anima mea , Allmächtiger …« Verzweiflung drückte sie aneinander, zog ihre Arme um ihre Leiber, bis kein Gedanke, kein Zweifel, nichts mehr dazwischenpasste, bis zwei menschliche Körper beinahe eins waren und Gottes Missfallen stumm an ihnen abglitt … Er hatte nicht gewusst, dass ihre Lippen solch ein Feuer entzünden konnten – er hatte ja nicht geahnt, dass sie so voller Verlangen steckte, hatte nichts geahnt, nichts …
Nial entzog sich mit aller Macht ihrem plötzlich erwachten Hunger. Keuchend bohrte er sein Gesicht an ihren Hals und umschlang sie besitzergreifend. Sie lag still in seinen Armen, vielleicht, damit er nicht auf die Idee kam, sie loszulassen. Aber das wollte er gar nicht. Er wollte seinen Schwur erfüllen und sie trotzdem nicht loslassen.
Und Schnee deckte sich über sie.
»Beth!«
Christina fuhr hoch, befreite sich aus seinen Armen. Der Todesbote war verschwunden, nur sein eisiger Dunst war noch da, verpestete die Luft – und hatte Tod zurückgelassen: Das Bauernhaus brannte inzwischen lichterloh! Wie lange hatten sie hier draußen gehockt, die Welt zusammen vergessen? Wie lange hatte sie sich nicht darum gekümmert, was sie zurückgelassen hatte? Ohne nachzudenken, löste sie sich von Nial und rannte los, auf das Feuer zu, wo Beth war – Beth und ihr Buch! Ihr Buch – das Buch, der Grund, weshalb sie sich überhaupt in diese Gefahr begeben hatte! Beth und das Buch lagen im Feuer! Mit zwei Schritten war Nial bei ihr, riss sie zurück, »Bist du wahnsinnig, du kannst da nicht reingehen!«
»Beth!«, heulte sie, »Beth und das Buch! Mein Buch, mein Buch verbrennt, Margaret … Magga … lieber Gott …« Und sie hastete weiter, ohne dass sie ihn loswurde, denn er redete auf sie ein, flehte sie an, doch zurückzubleiben, fasste ihre Arme, ihr Hemd, griff nach ihrer Schulter, doch sie war schneller, entkam ihm immer wieder wie ein Fisch im wild treibenden Wasser. Das Feuer wartete auf sie, zeigte ihr Bilder. In den Flammen, die jetzt im Haus wilde Tänze vollführten, sah sie Margaret weinen, sah sie den König anflehen, sich vor ihm auf die Knie werfen, hörte ihre Gebete, ihr Weinen …
»Ich tu’s!«, schrie er. »Ich geh für dich hinein!«
Sie starrte ihn an. Atemlos schüttelte sie den Kopf. »Nein – nein, nein – nein!« Da nahm er ihr Gesicht zwischen seine Hände, und die Flammen zauberten geheimnisvolle Funken auf seine braunen Augen.
»Ich liebe dich, Christina.« Seine Stimme war so leise. »Gott wird mich dafür strafen …« Sie küsste die restlichen Worte von seinen Lippen weg, sie wusste jetzt, wie das ging und wie man einen Mund mit dieser besonderen Sprache zum Schweigen brachte. Und weil er fassungslos stehen blieb, konnte sie entwischen, in das Feuer hinein, wo ihr Buch – und Beth! – hoffentlich verschont geblieben waren.
Ihr letzter Gedanke galt Margaret. Liebste Schwester!
Dann tauchte sie ein in das Flammenmeer, das sich anschickte, Berwins Haus von innen heraus zu verzehren, indem es genüsslich Holzbalken um Holzbalken anfraß, schwächte und schließlich zu Boden warf, wo sie zusammen mit Truheninhalten, Stoffen und Fellen eine vortreffliche Feuerspeise ergaben. Unerbittlich blies es Christina Hitze ins Gesicht – niemand würde es an seinem Werk hindern! Niemand.
Angestrengt schaute sie in das böse gleißende Licht, nun doch voller Angst, tiefer in das Haus einzudringen. Wie weit würde sie da kommen? Beth war nicht zu sehen. Nials Stimme perlte an ihr ab, so wie ihr Arm ihm
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