Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
der Frau blass und zunehmend gräulich. Der Rauch, den sie eingeatmet hatte, schien sich in ihrem massigen Körper auszubreiten und ihn von innen auszuhöhlen. Er fiel zusehends in sich zusammen, wurde klein … starb einen leisen, grauen Tod.
»Beth! Beth, bleib bei mir – Beth!« Entsetzen kroch aus ihren Eingeweiden hoch, umschlang ihre Kehle. »Beth!« Bevor es ihr die Luft nehmen konnte, hatte sie sich aufgerichtet und ihre Hände über der Frau ausgebreitet: »Bleib bei mir, Beth. Bleib.«
Diesmal gelang der Schritt in die andere Welt, gottlob, sie schaffte ihn, ohne zu stolpern, und sie fühlte, wie die Kraft in ihre Hände wanderte. Sie fühlte, wie sie von sich selbst abgab, aus sich herausschälte, von sich selbst abschnitt, um die andere zu retten, wie sie es damals für Ruaidrí getan hatte und wofür ihr an Katalins Sterbelager vielleicht der Wille gefehlt hatte …
Es schmerzte entsetzlich, als Leben von ihrem Körper auf den der Frau überging, fast verbrannten ihr die Finger dabei. Aber sie konnte spüren, wie es den letzten Funken in der Frau zu einem Flämmchen entzündete – und dass es ausreichte, um sie dem Tod zu entreißen.
Nials Stimme war weit weg. Irgendetwas rief er, dann wusste sie nur noch, dass er sie beschützte, weil sie jetzt so verwundbar war und weil das fahle Pferd immer noch nah genug war, um sich ihre Seele zu holen …
Er hatte sie von hinten aufgefangen und an sein klopfendes Herz gebettet, scheinbar ruhig und stumm, als wüsste er, dass jedes Wort das, was sie für Beth gegeben hatte, hätte zerbrechen können. Auch als sie die Augen aufschlug, blieb er still und gab sie einfach frei. Sie drehte den Kopf, und für einen ganz kurzen Moment sahen sie sich in die Augen. Die Wärme in seinem Blick reichte als Umarmung, als Kuss, als Versprechen. Sie blieb bei ihr, ohne mehr zu fordern, umfing sie wie ein Schutzwall vor dem, was noch kommen würde. Voller Dankbarkeit erwiderte sie den Blick und erlaubte sich, über den Rücken seiner Hand zu streicheln, die sich nun doch an ihren Leib geschlichen hatte.
Und vielleicht war es seine unbändige Energie, die ihr diesmal half, sich aufzurichten und ins richtige Leben zurückzufinden – und nicht, wie beim letzten Mal, zusammenzubrechen. Vielleicht war es auch das Ziel, das sie vor Augen hatte, das ihr beim Aufstehen half. Wenn auch auf allen vieren, aber doch aus eigener Kraft kroch sie durch den tiefen Schnee auf Beth zu und faltete die Hände.
» In Deo tantum quiesce, anima mea, quoniam ab ipso patientia mea. Verumtamen ipse Deus meus et salutare meum, praesidium meum; non movebor. In Deo salutare meum et gloria mea; Deus fortitudinis meae, et refugium meum in Deo est … Beth, sag doch was …«
» Hlæfdige . Das Buch, hlæfdige . Euer Buch.« Die Lippen bewegten sich kaum. Erst nach ein paar Momenten konnte Beth die Augen aufschlagen, und sie hatte nichts vergessen aus dem Feuer, nein, sie hatte etwas loszuwerden, falls der Teufel sie doch noch holen kam: »Euer Buch.«
»Bleib ruhig, Beth. Du lebst – das ist das Wichtigste.« Christina schämte sich für diese Lüge, und die Frau schaffte es sogar zu grinsen, weil sie auch ganz genau wusste, was für diese feine Dame das Wichtigste war.
»Euer Buch, hlæfdige .« Mühsam schluckte sie. »Ich hab es aus dem Fenster geschleudert. Es ist nicht verbrannt, hlæfdige . Er lag auf dem Buch. Der Berwin lag auf dem Buch. Es ist nicht verbrannt, hlæfdige , hört Ihr …« Erschöpft hielt sie inne, und ihre trüben Augen suchten Christina. Der liefen Tränen über das Gesicht, am liebsten hätte sie vor Erleichterung geschrien, doch sie beugte sich nur über Beth und bedeckte ihr blasses Gesicht mit tränennassen Küssen. Ein Glücksschimmer glitt über die verbrauchten Züge der Mörderin.
»Ob Gott mir das anrechnet? Wo Euch das Buch doch so wichtig war?«
»Ganz gewiss, Beth, ganz gewiss, ich werde für dich beten, Er wird dir vergeben, ganz gewiss …«, stammelte Christina. Dann raffte sie sich auf und taumelte los, auf das Haus zu, wo das Stundenbuch wohl irgendwo im Schnee verborgen lag.
Es sorgte dafür, dass es gefunden wurde. Es hatte um sich herum einen Kreis in den Schnee geschmolzen, als käme es geradewegs aus dem Feuer, doch als sie nach dem Buch griff, war es eiskalt. Das Leintuch war verloren gegangen, das Buch lag ungeschützt und hatte sich als harmloses Gebetbuch getarnt: Sein Gold war verblasst, die Edelsteine stumpf wie bei alten, verbrauchten
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