Die Stunde Der Toechter
Dann war es unwiederbringlich weg. Johanna di Napoli blieb unter dem Wasserstrahl stehen. Nicht weil sie kalte Duschen liebte. Sie mochte sich nicht bewegen. Als sie zu zittern begann, drehte sie den Hahn zu. Danach trocknete sie sich ab und zog den Pyjama an.
Im Wohnzimmer stand die Whiskeyflasche, die ihr Camenzind ins Spital gebracht hatte. So wie sie sie auf den Tisch gestellt hatte, als sie nach Hause gekommen war. Sie nahm sie, legte sich aufs Sofa und riss die Verpackung auf. Rosarotes Krepppapier. Sie warf es auf den Boden. Dann öffnete sie die Flasche und setzte an.
Der Notarzt hatte Tamara zur Beobachtung ins Burghölzli eingewiesen. Bis zuletzt hatte sie kein Wort gesprochen. Ein Schock, hatte der Doktor gemeint. Was diesen verursacht haben könnte, konnte nur Tamara sagen. Und die schwieg.
Die Spurensicherung hatte begonnen, die Räume zu untersuchen. Frühestens Montagabend würden sie damit fertig sein. Johanna hatte den Leiter gebeten, mit dem Bad zu beginnen. Auf den ersten Blick hatte er dort nichts gefunden, was auf einen Kampf hindeutete. Auch bei der oberflächlichen Untersuchung Tamaras hatte der Arzt keine Verletzungen festgestellt. Was in Bernhard Stämpflis Büro geschehen war, blieb ein Rätsel. Ebenso, wo er selbst geblieben war.
Johanna hatte versucht, ihn anzurufen. Sein Handy war aber außer Betrieb. Zumindest behauptete das die Telefongesellschaft.
Dafür hatte Johanna Claudia Escher erreicht. Sie war umgehend in das Spital gekommen. Erschreckt und besorgt wegen Tamara. Weniger wegen ihres Exmannes. Seit seiner Geburt bestehe seine Überlebensstrategie daraus, zu verschwinden, hatte sie gemeint.
Von der Notaufnahme hatte Johanna die beiden in die Klinik gefahren. Mit dem dortigen Arzt hatte sie vereinbart, dass er sie anrufen würde, wenn Tamara entlassen wurde. Auf jeden Fall würde Johanna morgen wieder vorbeischauen.
Anschließend war sie ins Büro gegangen. Die Lagebesprechung hatte nichts Neues gebracht. Von Kranach war nervös, weil der Kontakt zu Stämpfli abgebrochen war. Wenn von dem Kunsthändler keine Informationen kamen, hatten sie gar nichts mehr.
Die Kantonspolizei hatte Bogdanows Büros durchsucht. Zum zweiten Mal auch seine Wohnung. Außerdem hatten sie herausgefunden, dass er ein Motorboot auf dem See hatte und ein Appartement in Lugano. Das Boot hatten sie konfisziert. Um die Ferienwohnung kümmerten sich die Tessiner. Bis die konfiszierten Unterlagen untersucht worden waren, würden Tage vergehen. Die Fahndung hingegen hatte nichts gebracht. Bogdanow und seine Handlanger waren wie vom Erdboden verschluckt.
Das gleiche Schicksal wünschte sich Johanna herbei. Zum ersten Mal seit langer Zeit war sie einen Abend zu Hause. Dazu war ihre Wohnung nicht geschaffen. Zu klein und zu schmutzig. Das Allerletzte, was sie sich wünschte, war ein deprimierender Abend zu zweit – sie und ihr Selbstmitleid. Johanna betrachtete die Flasche in ihrer Hand. Sich bewusstlos zu saufen, schien ihr die bessere Wahl zu sein. Sie stand auf und ging ins Bett.
34.
Der Regen war weggeblasen. Das war zugleich das Letzte, was der Wind zustande brachte. Danach verzog er sich wie eine flüchtige Bekanntschaft. Gegenwärtig war wieder die Sonne am Werk.
Als Erstes ging sie schwimmen. Vielleicht würde der See ihre Augenringe wegwaschen. Nach vier Stunden im Alkoholrausch war sie aufgewacht. Danach hatten sie zu dritt auf den Sonnenaufgang gewartet. Johanna di Napoli, ihr Selbstmitleid und ihr Kopfweh. Als sie nun aus dem Wasser stieg, war sie wieder allein.
Vom Seebad fuhr sie direkt ins Burghölzli. Beim Empfang zeigte sie ihren Ausweis und fragte nach Tamara Stämpfli.
Ohne ihre Frage zu beantworten, nahm die Frau am Schalter den Hörer zur Hand und telefonierte. Danach wies sie Johanna an, auf den Arzt zu warten.
Der Herr Doktor ließ sich Zeit. Nach einer halben Stunde ging Johanna wieder an den Schalter. Eine ergebnislose Intervention. So setzte sie sich abermals.
Nach einer weiteren Viertelstunde erschien ein Mann. Um die fünfzig, mit Nickelbrille. Er war groß und hager. Auf dem Kopf hatte er keine Haare, im Nacken eine blonde Mähne.
»Sie sind von der Polizei?«
Johanna nickte und zeigte ihre Marke. »Wie geht es Tamara Stämpfli? Kann ich zu ihr?«
Unbeeindruckt gab er ihr den Ausweis zurück. »Wie es Frau Stämpfli geht, darf ich Ihnen nicht sagen. Arztgeheimnis. Besuchen können Sie Frau Stämpfli auch nicht. Sie ist heute Morgen entlassen worden.«
Johannas
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