Die Stunde Der Toechter
kaufte sie einen Strauß. Diesmal hieß das Stichwort ›Alles Scheiße!‹. Die taube Floristin machte das Beste daraus. Es waren Farben, bei deren Anblick man unausweichlich lachen musste. Einen Augenblick lang freuten sie sich gemeinsam. Dann kam neue Kundschaft.
Johanna di Napoli bezahlte und drehte sich um. Vor ihr stand ein junger Mann. Er lächelte. Dabei sah er unheimlich gut aus. Johanna schaute zuerst ihn an, dann den Blumenstrauß, dann wieder den Mann.
»Das ist wunderschön. Wie Sie«, sagte er mit einem starken französischen Akzent.
»Merci beaucoup« entgegnete sie. »Für dieses himmlische Kompliment lade ich Sie zum Kaffee ein. Kommen Sie mit?«
»Bis ans Ende der Welt«, meinte er verschmitzt.
Sie hakte sich bei ihm ein und zog ihn fort. »Vielleicht nehmen wir lieber einen Pastis?«
Es wurden mehrere daraus. Er hieß Luc und kam aus Lausanne. Er hatte italienische Wurzeln. Wie sie. Von Beruf war er Anwalt. In seinen Lehr- und Wanderjahren, wie er meinte. In Zürich machte er ein Volontariat in einer Kanzlei. »Um besser kennenzulernen das Wirtschaftsleben.« Zuvor hatte er bei der Staatsanwaltschaft des Kantons Waadt gearbeitet. Als sie ihm sagte, dass sie Polizistin war, fand er das ›très charmant‹. Andere Männer kurbelten nach dieser Information häufig die Rollläden herunter. Mit ihm konnte sie sogar fachsimpeln. Sie erfuhr unter anderem, wie ihr Dienstgrad in der Romandie hieß.
Nach einigen Drinks spazierten sie durch die Beton- und Glasbauten von Neu-Oerlikon. Nicht wirklich romantisch. Aber lustig. Im Oerliker Park stiegen sie auf den Turm hinauf. Die Aussicht bestand aus kiffenden Jugendlichen und Kinderwagen.
Währenddessen erzählte er ihr von Italien. Sein Vater stammte aus dem Veneto. Er war als Landarbeiter in die Schweiz gekommen. Schließlich hatte er sich in Renens niedergelassen. Einem Vorort von Lausanne. Dort hatte er bis zur Pensionierung in derselben Firma gearbeitet. Eine Bauchemiebude. Die Chemikalien hatten seine Gesundheit gefressen. Nun lag er im Spital.
Bei diesem Stichwort blieben sie einen Moment still und schauten den Halbwüchsigen zu.
Dann erzählte Luc von den Ferien in Italien. Vom Meer, von den Familienfesten in einem Restaurant in den Bergen. Von den Cousins, die ihn Svizzerotto nannten.
Johanna kannte ihre italienische Familie nicht. Italien nur von eigenen Reisen. Allerdings gab es kaum eine Gegend auf der Halbinsel, wo sie nicht gewesen war. Die Sprache hatte sie in der Schule gelernt. Und als Teenager bei einem Sprachaufenthalt während der Sommerferien in Bologna. Zusammen mit Tamara Stämpfli. Allein hätte ihre Großmutter sie nicht gehen lassen. Bernhard Stämpfli hatte einen Teil der Kosten übernommen. Er war immer großzügig gewesen.
Sie wandte sich wieder ihrer Bekanntschaft zu. »Kennst du die italienische Literatur der Nachkriegszeit? La Romana von Alberto Moravia oder Tutti i nostri ieri von Natalia Ginzburg?«
Er schüttelte den Kopf. »Alles, was ich in Italien gelesen habe, ist die Gazzetta dello Sport. « Nachdenklich blickte er sie an. »Wir waren nicht bewusst italienisch. Verstehst du, was ich meine? Wir sind einfach zu unseren Verwandten in die Ferien gefahren. Das ist alles.«
Johanna nickte. »Es sind zwei meiner Lieblingsbücher.« Augenblicklich hatte sie eine Idee. »Wenn das nächste Mal ein Zyklus zum italienischen Neorealismus läuft, gehen wir Riso Amaro schauen. Einverstanden?«
Luc lachte. »Wenn ich dann noch lebe, sicher.«
Johanna zündete eine Zigarette an. Er war Nichtraucher. Einer von der toleranten Sorte. Wahrscheinlich der Einzige. »Ich habe Hunger. Gehen wir?«, fragte sie.
In der Metzgerhalle beim Sternen Oerlikon aßen sie Fleischkäse mit Kartoffelsalat. Von der Terrasse aus schauten sie den Junkies zu, die zur Anlaufstelle pilgerten. Sie war ein paar Meter weiter in der Wallisellenstrasse. Am Tisch neben ihnen saßen vier Männer beim Kartenspiel. Zigarrenrauch lag in der Luft.
»Du wohnst hier?«
Johanna streute jede Menge Salz auf die Kartoffeln. »Als ich nach Zürich gezogen bin, waren die Mieten hier draußen noch günstig.« Sie schaute den Blumenstrauß auf dem Stuhl neben ihr an. Die ganze Zeit hatte sie ihn mit sich herumgetragen. »Wenn der Markt nicht wäre, würde ich wegziehen. Es ist mir nicht dörflich genug.«
Luc nickte. »Zu viele Büros. Gibt es auch in Lausanne.«
Er legte sein Besteck auf den Teller. Der war noch halb voll. Deutsch-schweizerische Hausmannskost
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