Die Stunde der toten Augen
Pistole bei drei Schüssen zwei Treffer aufzuweisen hatten. Er hetzte sie nicht und legte mehr Rauchpausen ein als gewöhnlich. Er ließ sogar eine Flasche billigen deutschen Wacholder, der nach Medizin und Kampfer schmeckte, reihum gehen und beendete den Dienst früher, als es im Plan vorgesehen war, den Alf aufgestellt hatte.
Das änderte sich auch in den folgenden Tagen nicht. Manchmal zogen sie nicht erst aus dem Dorf hinaus, sondern bekamen in einer Scheune, deren Dach halb abgerissen war, Unterricht im Minenlegen oder im Anbringen von Sprengkörpern.
Die Tage verflossen, ohne daß es größere Ereignisse gab. Es schien, als sei die Front eingefroren, als bestünde keine Aussicht darauf, daß sie in absehbarer Zeit an dieser Stelle zum Leben erwachen könnte.
Die Infanterie schoß wenig, und die schweren Geschütze brüllten nur selten auf. Am späten Nachmittag tasteten die sowjetischen Granatwerfer die deutschen Stellungen ab. Es waren immer einzelne Schüsse, die sie abgaben, und die Unerfahrenen schenkten ihnen keine Beachtung. Andere allerdings, die nicht das erste Jahr an der Front verbrachten, wußten, was diese vereinzelten Schüsse der Granatwerfer zu bedeuten hatten. Die Rote Armee schoß sich auf die deutschen Stellungen ein. Sie markierte ihre Ziele in der Hauptkampflinie und auf den Verbindungswegen, sie maß die Stellungen der deutschen Geschütze an und die nächsten Etappenorte. Die einzelnen Granaten krepierten wie zufällig in der Nähe von Abstellplätzen oder nicht weit von der Stelle entfernt, wo Panzer parkten.
In der klaren Luft über dem schneebedeckten Land kurvte die U2, jenes langsame Doppeldeckermaschinchen mit dem blubbernden Motor, von dem man glaubte, daß er jeden Augenblick aussetzen müsse. Der Beobachter machte seelenruhig seine Aufnahmen aus dem Flugzeug, und dann und wann schwenkte er das Maschinengewehr auf dem Drehkranz herum und schoß eine Garbe zur Erde. Die Soldaten schossen nicht mehr nach ihm. Es war schwer, die Maschine zu treffen. Sie kam auch nachts, und dann war sie unberechenbar. Sie warf kleine Bomben, die manchmal nicht zündeten, und die Leuchtspur ihres Maschinengewehrs fiel wie eine grünliche Perlenschnur zur Erde. Sie nannten sie UvD. Aber es gab welche, die wußten, was es bedeutete, wenn diese Maschine Tag und Nacht mit dieser Beharrlichkeit über der Front kreiste und wenn zu gleicher Zeit die Granatwerfer sich einschossen und man hinter den russischen Schützenlinien das Gerumpel schwerer Motoren hörte.
In den ersten Löchern der deutschen Linie bekamen die älteren Soldaten besorgte Gesichter. Sie sahen sich nach einem Rückzugs- weg um, und dabei merkten sie, daß die glatte Ebene hinter ihnen keinen Schutz und keine Deckung bot. Es gab vereinzelt Bäume und nur ab und zu ein paar Büsche. Erst weit hinten begann der Wald. Aber bis man dort war, hatten einen die Granatwerfer oder die Stalinorgeln schon erwischt. Die Soldaten in den zugewehten Löchern hatten keinen Zweifel mehr darüber, daß der Angriff von drüben zu jeder Stunde beginnen konnte. Und dieser Angriff bedeutete für sie Rückzug. Aber es waren sehr schlechte Rückzugsmöglichkeiten in dem Gelände zwischen der Front und dem Dörfchen Haselgarten.
Um diese Zeit gab es in der Aufklärungskompanie kaum einen, der nicht wußte, daß es in wenigen Tagen einen Großeinsatz geben würde. Bindig, der sich abends meist bei Anna aufhielt, sagte ihr nichts davon. Aber Georgi kannte die Angriffstaktik seiner Armee. Es war tiefer Winter, und über Nacht konnte es große Schneefälle geben. Dazu kamen die U2-Maschinen, die ununterbrochen das Gebiet überflogen, und es kamen die vereinzelten Einschläge dazu, die Georgi von Haselgarten aus wahrnehmen konnte, weil es still war und nichts weiter an Geräuschen gab als diese einzelnen Detonationen,
Er hockte auf den Stufen zur Haustür, als Bindig kam. Er wollte ihm ausweichen. Aber Bindig hielt ihn zurück.
„Was ist los, Georgi?" fragte er ihn. „Warum sitzen Sie hier draußen?" Der Russe gab nur zögernd Antwort. Er hatte seit dem Zusammentreffen in seiner Kammer nur wenig mit Bindig gesprochen. Er hatte es vermieden, ihm zu begegnen.
Bindig hatte eines Tages noch erfahren, daß er Offizier gewesen war. Es hatte ihn nicht sonderlich überrascht, denn nicht nur der Umstand, daß dieser Russe die deutsche Sprache beherrschte, sprach dafür, daß er eine hohe Bildung besaß.
„Ich habe hier die beste Gelegenheit nachzudenken", sagte er zu
Weitere Kostenlose Bücher