Die Stunde der toten Augen
was so sicher ist."
„Alles ist bei Ihnen sicher", sagte Bindig. „Es gibt nichts, was Sie nicht ganz sicher wissen und voraussagen können. Manchmal kommt mir das eigenartig vor."
Warasin lehnte sich an die Tür und hob die Schultern. Er sagte: „Es ist gar nicht so eigenartig. Wir haben unser Bild von der Welt. Wir wissen, was wir wollen, und wir wissen auch, woran unsere Gegner zugrunde gehen werden."
„Sie meinen Deutschland?"
ja, Deutschland." Warasin fügte nach einer Weile hinzu: „Das Deutschland Hitlers."
„Es wird zugrunde geben?"
„Ich sagte es bereits."
„Woran?"
Warasin lächelte. „Daran, daß wir es besiegen werden. Wir werden es gründlich tun."
Er zeigte keine Überraschung, als Bindig sagte: „Möglich. Ich weiß es nicht. Sie haben die stärkeren Waffen, Sie haben mehr Menschen und den längeren Atem."
„Das ist eine militärische Frage", sagte Warasin ruhig. „Sie ist sicher eine entscheidende Frage, aber sie ist von einigen Dingen abhängig, die Sie nicht berücksichtigen. Oder vielleicht wollen Sie nichts davon wissen. Sie haben die Menschen nicht hinter sich."
„Sie meinen, Hitler hat die Menschen nicht hinter sich."
„Ich stimme Ihnen zu", antwortete Warasin. „Es scheint, daß Sie sich von Hitler distanzieren wollen."
„Hören Sie", sagte Bindig, „Sie sind Russe, und ich bin Deutscher. Wir haben Krieg miteinander. Die Frage nach Hitler kommt erst ein wenig später." „Ganz recht, aber Hitler hat den Krieg begonnen."
„Mag sein, daß Sie auch darin recht haben. Aber wie kommen Sie zu der Überzeugung, daß unsere Menschen nicht hinter Hitler stehen? Unsere Menschen führen schließlich diesen Krieg."
„Leider. Aber ich bin trotzdem der Meinung, daß die Mehrzahl der Deutschen nicht hinter Hitler steht."
„Das ist eine gewagte Behauptung", sagte Bindig. „Bewahren Sie sich vor Illusionen."
Warasin nickte. Dann fragte er plötzlich sehr leise: „Stehen Sie hinter Hitler?"
Bindig schwieg. Die Frage überraschte ihn nicht. Sie hatte kommen müssen, das Gespräch hatte sich auf sie zu bewegt. Aber er wußte trotzdem nicht, wie er antworten sollte. Schließlich sagte er: „Ich bin Soldat. Ich kämpfe gegen Ihre Armee. Zu wem ich stehe, spielt dabei absolut keine Rolle." Er sah in das lächelnde Gesicht Warasins, der ihm antwortete: „Ich halte Sie für einen Menschen, der zwar in Hitlers Armee kämpft, aber mit Hitlers Kriegszielen nichts gemein hat. Ich habe erst, seit ich mich hier aufhalte, begriffen, daß es so etwas gibt. Früher habe ich mir das ein wenig anders vorgestellt. Ich habe geglaubt, daß es eine unzerstörbare Einheit zwischen dem System Hitlers und den Leuten gibt, die den Krieg für dieses System ausfechten. Aber ich habe begreifen gelernt, daß diese Einheit eine sehr brüchige Angelegenheit ist. Es gibt so etwas wie eine gewisse Trägheit des Denkens unter Ihnen. Sie hindert solche Menschen wie Sie daran, einfach mit dem System, für das sie kämpfen, zu brechen. Und dann gibt es die Vorstellungen, die man Ihnen über unser Land und unsere Menschen eingehämmert hat. Wenn es die Deutschen fertigbrächten, selbst zu denken und sich von dem, was sie glauben, und von der Richtigkeit dessen, was sie tun, selbst zu überzeugen, dann täten sie sehr gut daran."
Bindig hörte ihm unbewegt zu. Insgeheim bewunderte er den Russen, denn es gehörte Mut dazu, in seiner Situation derartiges zu sagen. Doch vielleicht war das gar kein Mut, sondern nur die Sicherheit:, die in der Überzeugung ihren Ursprung hatte, daß Bindig ihn nicht verraten konnte, ohne Anna zu gefährden.
„Was wollen Sie?" fragte er. „Wollen Sie mich dazu bewegen, daß ich zur Sowjetarmee, überlaufe?"
Der Russe sagte höflich: „Ich wünschte, ich könnte das."
„Wenn es nach Ihnen ginge, dann sollte ich den Rest meines Lebens unter der Aufsicht eines Kommissars in Sibirien verbringen?"
„Sibirien hat heiße Sommer und eiskalte Winter", sagte der Russe, „aber der Rest Ihres Lebens dürfte erheblich länger sein als der Rest von Leben, der dem Hitlersystem verbleibt."
„Sie geben sich viel Mühe, mir Ihre Ideen zu erklären. Weshalb eigentlich? Ich bin Soldat. In Ihren Augen bin ich sogar ein unmittelbarer Feind. Sie wissen, warum ich Sie nicht ausliefern kann. Aber glauben Sie denn, ich hätte es nicht getan, wenn die Dinge auch nur ein klein wenig anders gelegen hätten?"
„Ich bin überzeugt, daß Sie es getan hätten", antwortete der Russe. „Aber trotzdem
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