Die Stunde der toten Augen
das Gefühl, als hätten sie einen Plan für eine ganz verrückte Sache. Timm weiß noch nichts, sonst hätte ich vielleicht ein paar Bemerkungen darüber aufgeschnappt. Aber jedenfalls haben sie etwas vor. Du wirst es sehen."
Bindig sah nach der Uhr am Handgelenk. Der Tag war angebrochen.
Er fragte Zado: „Was gibt es für Dienst?"
„Leichte Sachen", gab Zado zurück, „das sicherste Zeichen dafür, daß sie uns für ein verrücktes Ding brauchen."
Bindig atmete tief. „Wie viele solche Dinge wird es noch geben?"
„Ich weiß es nicht", sagte Zado leise, „aber die Russen wissen es. Ich wette, sie wissen heute schon den Termin, zu dem sie Berlin einnehmen werden."
Paniczek walzte sich wieder auf die andere Seite. Er hatte die Decke bis zum Hals gezogen. Die Haare hingen ihm wirr ins Gesicht. Der Mund war offen, und ein dünner Speichelfaden lief auf den Strohsack. Dann, als er sich herumgewälzt hatte, murmelte er halblaut: „Barbara ... und wird schon ... ich... habe Barbara... komm schon her..."
„Halt die Fresse, du Trottel!" rief Zado ihn an. Als Paniczek sich regte, sagte er: „Du bist doch der größte Idiot in diesem ganzen Laden!"
„Ich ..." Paniczek richtete sich verschlafen auf und blinzelte in das Licht der Kerze. „Das war so ..."
„Ach", sagte Zado, und Bindig wußte nicht, ob er wütend war oder scherzte, „das war deine Barbara! Hör auf damit. Sie schläft um diese Zeit gerade mit einem Leutnant von der Heimatflak oder mit einem uk. gestellten Parteibonzen. Sie kriegt bloß den Schluckauf, wenn du dauernd an sie denkst. Das ist in solchen Situationen verflucht peinlich, du solltest das wissen I"
Aus dem Nebenhaus kam das Geräusch einer zuschlagenden Tür. Dann knirschten Schritte über den Schnee, und der Posten, der die Tür aufriß, raunzte heiser: „Los! Auf, ihr Brüder! Hoch die Ärsche!"
Alf verlieh Bindig die Nahkampfspange persönlich. Er sagte ein paar Worte über seinen Mut, und dann heftete er ihm die Auszeichnung an die Uniform und drückte ihm die Hand.
Die Kompanie war angetreten, und die Soldaten froren, weil sie während der ganzen Zeit stillstehen mußten. Alf zog schnell die Handschuhe wieder über. Ein wenig leiser, so daß es die angetretenen Soldaten nicht hörten, erkundigte er sich, ob Bindig wieder völlig gesund sei.
Bindig hob ein wenig den Kopf und antwortete: „Jawohl, Herr Leutnant.
Ich fühle mich gesund."
„Eine Art Fieber, was Sie da hatten. Haben Sie das öfter?"
„Ich hatte es zum erstenmal, Herr Leutnant."
„Keine Nachwirkungen?"
„Ich denke nicht."
„Ich will es hoffen. Sie werden gebraucht. Wir haben große Pläne."
Am Nachmittag zog Timm mit seinem Zug ein paar hundert Meter hinter das Dorf zu einer Übung. Es hatte noch einige Nächte hindurch geschneit, und der Schnee war jetzt tief und weich. Er deckte die Felder völlig zu, so daß es nirgendwo mehr einen Fleck kahler Erde in dem weißen Einerlei der Landschaft gab. Darunter war der Boden steinhart gefroren.
Einmal hatte es getaut, aber nur einen halben Tag lang, und dann war der Frost wiedergekommen. Er hatte die letzte Feuchtigkeit aus den Ästen der Bäume gepreßt und sie mit einer dicken Schicht Reif überzogen. Die Krähenschwärme krächzten heiser über den verschneiten Feldern, und die Tiere hockten zuweilen in dichten Scharen am Boden. Mittags, wenn die Sonne den Schnee aufleuchten ließ, daß sein Glanz die Augenschmerzen machte, kamen die Flieger.
Sie waren nahezu unangreifbar, denn es gab kaum Flakgeschütze, nur ein paar verstreut aufgestellte Zweizentimeterkanonen. Aber die hüteten sich, auf die schnellen silbernen Vögel mit dem roten Stern unter den Tragflächen zu schießen, denn die Flieger wußten die Sonne auszunutzen. Hatten sie erst einmal Leben auf der Erde ausgemacht, dann stießen sie, mit der Sonne im Rücken, herab und schossen jede Abwehr zusammen. Niemand war sicher vor ihnen.
Sie griffen die Nachschubkolonnen an und die Postholer, sie ließen Raketen auf Artilleriestellungen und Etappendörfer herabzischen. Sie machten Jagd auf Maschinengewehrnester und selbst auf einzelne Melder, die sie auf der weiß verschneiten Ebene unter sich erkannten. Timm verlangte an
diesem Nachmittag nicht viel von seinem Zug. Er ließ ausschwärmen und laufen und die Männer eine Stunde lang das lautlose Kriechen durch den lockeren Schnee üben. Er zog mit ihnen in ein Wäldchen, wo sie auf eiserne Kippscheiben schossen, und war zufrieden, wenn sie mit der
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