Die Stunde der toten Augen
Kindern zu schämen braucht."
Er legte die Hand an die Mütze und wandte sich mit einer feierlichen Geste um. Dabei sagte er zu Timm: „Lassen Sie abrücken. Heute nachmittag ist dienstfrei. Abfahrt bei Einbruch der Dunkelheit."
„Rechts um", kommandierte Timm mit ruhiger Stimme, „ohne Tritt, marsch." Er ging neben dem Leutnant her, ein Stück vor den Soldaten, die müde durch den Schnee schlurften.
„Eure Kinder...", grunzte Paniczek, „weiß ich gar nicht mehr, wie man welche macht..."
Aber Zado hörte nicht auf das, was er sagte. Er trottete mit gesenktem Kopf zwischen Bindig und Paniczek und sagte mehr zu sich als zu den beiden anderen: „Jetzt ist es endlich 'raus, wer die Erlaubnis bekommt, den Russen den Todesstoß zu versetzen. Himmel, das ist eine Ehre! Eigentlich hätte ich das ganz gern jemand anderem überlassen .. ."
„Ruhe im Glied!" riet Timm von vorn. „Ein Lied, ihr lahmen Krieger!" Einer stimmte „Fern bei Sedan" an. Aber sie kamen nicht dazu, es zu singen, denn Timm wandte sich um und rief: „Ihr seid wohl zum Heulen aufgelegt, was? Singt bloß was Schmissiges und keine Trauermärsche!"
Nach einer Minute sangen sie einen Schlager, der mit „Oho, Senorita..." anfing und etwas mehr als acht Minuten später mit
„... komm zu mir in die kleine Gondola!" aufhörte. Der Gesang war wie das Krähen stimmbrüchiger Kinder. Aber Timm drehte sich nicht mehr um. Der Leutnant fragte ihn: „Wie ist die Stimmung?"
„Leidlich", antwortete Timm. „Nicht besonders, aber das wird wieder besser."
„Wenn wir mehr Zeit hätten!" sagte Alf. „Man muß sich mehr mit den Leuten beschäftigen."
Timm nickte. Dann sagte er: „Denen fehlt was anderes. Es gibt keine Mädchen hier. Das müssen wir ändern. Sie werden uns sonst bockig."
„Mädchen ...", sagte Alf peinlich berührt, „das ist ein kompliziertes Problem. Man kann da nicht so einfach ..."
„Eben", unterbrach ihn Timm, „und deshalb muß man dafür sorgen, daß sie auf irgendeine Weise wieder mal an Mädchen kommen. Ich kenne das. Es wirkt Wunder. Ich habe meine Erfahrung."
„Es gibt noch Schnaps heute mittag", teilte ihm Alf mit.
Timm nickte zustimmend: „Das wirkt auch Wunder."
Hinten fragte Zado einen der Russen: „Habt ihr wenigstens schon mal ein Messer in der Hand gehabt?"
Der Russe blickte ihn mißtrauisch an und sagte dabei: „Messer, ja. Schon gehabt."
„Zu Hause? Oder jetzt bei uns?"
„Jetzt. Und zu Hause."
„Zu Hause?"
„Ja. Zu Hause", der Russe nickte, „gutes Messer. Hat Miliz abgenommen. War eiserner Griff. So was man in Deutschland sagt Schlagring. Zusammen mit Messer. Kombination. Schade. Sehr gutes Messer."
„Na also", brummte Zado. Er spuckte geräuschvoll aus. „Dann seid ihr ja bei uns richtig. Sogar goldrichtig. Unsere Kompanie ist nämlich die Elite der Division. Und unser Haufen hier ist die Elite der Kompanie."
„Großes Ehre", sagte der Russe. „Sehr großes Ehre."
„Eben!" knurrte Zado. „Ich habe mein ganzes Leben von so großes Ehre geträumt. Mein ganzes Lehen ..."
Der nächste Morgen war fahl und grau. Es hatte in den frühen Tagesstunden ein wenig geschneit, aber es war nur dünner, körniger Schnee gewesen. Er hatte die Spuren der vergangenen Nacht zugedeckt, und die weiße Decke auf dem Land zwischen den Fronten schien unberührt. Stellenweise lag Stacheldraht, aber es gab große Lücken, denn es schien keinen Stacheldraht mehr in Deutschland zu geben. Der Nachschub konnte keinen auftreiben.
Die Vögel waren noch nicht wach. Sonst hörten die Soldaten sie jeden Morgen, aber heute war es noch zu früh für sie. Es waren Krähen, die sich über Nacht in das Geäst einiger bereifter Bäume hockten und am Morgen unter mißtönendem Gekrächze aufflogen, wohl um Nahrung zu suchen. Es gab Soldaten, die Angst vor diesen Krähen hatten, und manchmal schossen sie nach ihnen. Es hieß, daß sie den Leichen die Augen aushackten und überhaupt das verwesende Fleisch fraßen. Der Posten in dem Flankenloch der Stellung, die sich auf der Höhe des Dörfchens Haselgarten dahinzog, war müde. Er war einer von denen, die vor den Krähen Angst hatten. Er hieß Puhlwitz und war von Anfang an dabei. Fünf Jahre hatten ihn die Krähen nicht gestört, aber nun begann er sie zu fürchten. Er beobachtete in der farblosen Dämmerung einen Baum, der unweit seines Loches stand. Dort hockten ein halbes Dutzend, regungslos, zusammen geduckt und still.
In einer halben Stunde fangen sie an zu lärmen,
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