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Die Stunde der toten Augen

Die Stunde der toten Augen

Titel: Die Stunde der toten Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Thürk
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nicht so dicht sitzen.
    Unternehmen „Friedhof"
    Die beiden Straßen, die sich wenige hundert Meter von dem Seenkomplex entfernt kreuzten, kamen von Berziniki und Zegary. Es waren zwei gewöhnliche Landstraßen, eingebettet in das verschneite Grün der Wälder, die hier dunkel und undurchdringlich waren. Die ganze Gegend hatte etwas Urwüchsiges, von Menschen scheinbar Unberührtes. Die Schneewehen lagen weiß und rein. Das Eis der Seen war von einer dichten Schneedecke überzogen, und über den unberührten Schnee zog ab und zu eine Wildfährte.
    Nur die beiden Straßen verrieten, daß es Menschen gab. Sie waren befahren. Der Schnee war beiseite geschoben, und stellenweise war unter den Rädern und Ketten der Fahrzeuge die Erde aufgewühlt worden, wodurch der Schnee eine schmutzige Färbung erhielt. Es mochte am starken Verkehr auf den beiden Straßen liegen, daß die Gegend um die Kreuzung unberührt erschien. Die Soldaten hatten keine Zeit, aus den Fahrzeugen auszusteigen. Sie mußten ihre Aufmerksamkeit darauf verwenden, die verschneite Straße so schnell wie möglich hinter sich zu bringen und ihre Fahrzeuge in die Nachschuborte in der Gegend um Sudauen zu bringen. Hier war der gelegentliche Donner der Geschütze als sehr schwaches Murmeln zu hören, und auch das nur, wenn größere Kaliber schossen. Es war so still, daß man hätte glauben können, der Krieg sei längst vergessen. Aber wenn dann wieder eine Kolonne die Straße entlangpreschte oder wenn sich ein paar schwere Fahrzeuge mühsam durch frische Schneewehen mahlten, wußte man, daß der Friede in den verschneiten Wäldern nur scheinbar war.
    Klaus Timm hatte sich nicht lange an der Kreuzung aufgehalten. Dort war alles so, wie er es aus der Übung vor dem Einsatz kannte. Er zog sich deshalb bald wieder zurück in den Wald, der westlich der Kreuzung lag. Er ging nahe am Versteck seiner Soldaten vorbei und winkte dem Posten ab, als dieser auf ihn zugehen wollte. Im Weitergehen schlug er den Mantelkragen hoch. Ihn fror. Er wußte selbst nicht, weshalb ihm mit einem Male so unbehaglich zumute war. Er hatte nie eine Malaria gehabt, aber er spürte, daß er fieberte, seit er in die Maschine gestiegen war.
    Während er zwischen den schneebeladenen Ästen der Tannen vorwärts schlich, versuchte er sich jede Einzelheit der Gegend genau einzuprägen, damit er sie in ein paar Stunden, wenn es dunkel war, gut genug kannte, um sich zurechtzufinden. Er sah seinen Schatten vor sich herlaufen, als er eine Lichtung überquerte. Die schrägstehende Sonne zeichnete seinen Oberkörper und den Kopf mit der plumpen Pelzmütze deutlich in den Schnee. Mach einen Sprung, dachte er einen Augenblick lang, spring über den Schatten hinweg! Er lächelte dabei, und sein Lächeln galt der Redewendung von dem eigenen Schatten, über den zu springen niemand in der Lage ist.
    Dann hatte er den Seitenweg gefunden.
    Es war ein verhältnismäßig breitet Weg. Timm hatte keinen Zweifel, daß die Fahrzeuge ihn, ohne zu zögern, einschlagen würden. Er zweigte in sanftem Übergang von der Straße ab und schlängelte sich durch den Wald. Timm folgte ihm, bis er an dem Holzplatz angelangt war, von dem sie bei der Division gesprochen hatten. Er besichtigte den Platz eingehend und fand, daß es keinen besseren geben konnte für das, was sie in dieser Nacht vorhatten.
    Der Wald war menschenleer und still. Es war kalt und sonnig. An den Ästen der Bäume waren vor Tagen kleine, blitzende Eiszapfen entstanden. Timm griff sich im Vorbeigehen einen und steckte ihn zwischen die Zähne. Die Kälte des Eises tat wohl. Aber sie löschte den Durst nicht, und Klaus Timm harte Durst. Am jenseitigen Rand des Holzplatzes hockte er sich auf einen Baumstumpf, der ein paar Zentimeter aus dem Schnee ragte, und brannte sich eine Zigarette an. Blinzelnd schaute er dem Rauch nach, der in sanften Spiralen emporstieg und sich langsam in der klaren Luft verlor. Das Licht des Tages wurde rötlich. Die Schatten nahmen an Tiefe und Schwärze zu.
    In Ordnung, dachte Timm. Er verzog das Gesicht zu einem Grinsen, als habe er soeben einer Frau eine Zote erzählt. Dann spuckte er kräftig aus und sagte zu sich selbst: „Auf, der Friedhof will hergerichtet sein!" Er stapfte ohne sonderliche Eile den Weg zurück. Die Soldaten hockten unter den herabhängenden Zweigen und rauchten. Sie rückten erwartungsvoll zusammen, als er zu ihnen trat. Bis auf die beiden Posten waren alle beieinander. Timm schob die Pelzmütze ins Genick

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